Nazis und Knittelfeld veränderten Wahlen

Das steirische Knittelfeld ist ein Fall für die Geschichtsbücher geworden. (Im Bild: Jörg Haider am Samstag, 07. September 2002, nach Ende der FPÖ Delegiertenversammlung in Knittelfeld).
Das steirische Knittelfeld ist ein Fall für die Geschichtsbücher geworden. (Im Bild: Jörg Haider am Samstag, 07. September 2002, nach Ende der FPÖ Delegiertenversammlung in Knittelfeld).(c) APA (Roland Schlager)
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Zum ersten Mal wurden die Wählerströme aller Nationalratswahlen analysiert. Die Zulassung früherer Nazis 1949 oder die Ereignisse von Knittelfeld 2002 brachten große Verschiebungen.

Heutzutage gibt es sie nach jedem Urnengang: die Wählerstromanalyse, die anhand von Sprengelergebnissen rekonstruiert, welche Stimmen eine Partei von einer anderen gewinnen konnte. Doch in früheren Zeiten waren solche Analysen unüblich. Diese Lücke schließt nun ein gemeinsames Projekt der Meinungsforscher von Sora und den Historikern vom Haus der Geschichte Österreich (HDGÖ).

Erstmals wurden für das am Montag vorgestellte Projekt die Wählerströme aller bisherigen Nationalratswahlen – von 1919 bis heute – analysiert. Und das Ergebnis zeigt Bemerkenswertes auf.

Die Stammwähler

Lange Zeit waren die Österreicher ihrer Lieblingspartei von der Wiege bis zur Bahre treu. Bis in die 1970er-Jahre hinein wählten 80 bis 90 Prozent der Bürger konstant dieselbe Partei. Seither nimmt dieser Effekt immer mehr ab. Bei der Wahl 2017 galten sogar nur noch 56 Prozent als Stammwähler. Die schwindende Treue zu einer Partei ging mit einem Machtverlust der einst alles dominierenden Parteien SPÖ und ÖVP einher.

Die Wechselwähler

In die entgegengesetzte Richtung zu den Stammwählern entwickelte sich folgerichtig die Zahl der Wechselwähler. Am wenigsten von ihnen gab es im Jahr 1975, als Kanzler Bruno Kreisky seine absolute rote Mehrheit verteidigte. Nur neun Prozent der Bürger gaben damals einer anderen Partei die Stimme als beim Urnengang 1971.

Bei der Wahl 2017 wurde mit 37 Prozent ein Höchststand an Wechselwählern gezählt. Als Wechselwähler gilt, wer zuletzt für eine andere Partei votiert hat oder zwischen dem Lager der Wähler und Nichtwähler (in die eine oder andere Richtung) gewechselt ist.

Die Nazi-Stimmen

Historisch besonders interessant ist die Analyse der Wahl 1949. Bei dieser durften 940.000 Personen votieren, die dieses Recht beim Urnengang 1945 noch nicht hatten. Die Hälfte davon waren sogenannte Minderbelastete, also frühere NSDAP-Mitglieder, die ihr Wahlrecht wiedererlangten. Die andere Hälfte bestand aus inzwischen eingebürgerten Flüchtlingen und aus Personen, die aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren.

Diese neuen Wähler (alle drei Gruppen zusammen) votierten zu 31 Prozent für die ÖVP bzw. die SPÖ und zu 24 Prozent für die WdU (Wahlpartei der Unabhängigen). Die WdU war ein Vorläufer der FPÖ und als Auffangbecken für das dritte Lager unter früheren Nationalsozialisten populär. Zum Vergleich: Im österreichweiten Gesamtergebnis kam die WdU auf nur 11,7 Prozent.

Noch deutlicher wird der Effekt, wenn man das Stimmergebnis der WdU auf Wechselwähler hin untersucht. Demnach konnte die Partei bei ihrem ersten Antreten 89.000 Stimmen von der SPÖ und 85.000 von der ÖVP gewinnen. Der Großteil der Stimmen (229.000) kam aber aus der erstmals zugelassenen Wählergruppe, in der viele frühere NSDAP-Mitglieder waren.

Die Rekordhalter

Das steirische Knittelfeld ist durch den FPÖ-Parteitag und den Bruch der ersten schwarz-blauen Regierung ein Fall für die Geschichtsbücher geworden. Doch die darauffolgende Wahl aus dem Jahr 2002 ist auch eine für die Rekordbücher. Denn damals gab es die größten Wählerverschiebungen überhaupt.

Die FPÖ verlor 753.000 Anhänger, und damit fast zwei Drittel ihrer Stimmen. 630.000 Personen, das ist die Hälfte aller FPÖ-Wähler von 1999, wechselten zu Wolfgang Schüssels ÖVP. Dieser fuhr mit seinem Slogan „Wer, wenn nicht er“ einen großen Wahlsieg ein.
Betrachtet man die Behaltequote (welche Partei konnte wie viele ihrer früheren Wähler halten), erwischte es aber das BZÖ am schlimmsten. Nur zwölf Prozent jener, die 2008 Orange gewählt hatten, taten dies 2013 wieder. Dazwischen war der Tod des Parteigründers, Jörg Haider, gelegen.

Die höchste Behaltequote an Wählern erreichte die ÖVP im Jahr 1966 unter Kanzler Josef Klaus. 96 Prozent der schwarzen Wähler von 1962 schenkten ihrer Partei wieder das Vertrauen. Klaus holte damals die absolute Mandatsmehrheit. Bruno Kreisky konnte einen ähnlichen Erfolg (95 Prozent Behaltequote) für die SPÖ 1975 verbuchen.

Die Nichtwähler

Ein Phänomen der jüngeren Zeit ist der Anstieg jener, die auf ihr Stimmrecht verzichten. Während im Jahr 1949 nur fünf Prozent nicht zur Urne schritten, hatten im Jahr 2013 gleich 26 Prozent keine Lust, ihr Kreuzerl zu machen. Das war ein historischer Höchstwert.

Das Projekt

Besucher des Hauses der Geschichte können sich ab sofort in die Wählerströme von einst vertiefen. Ab Herbst sollen die Daten online für jedermann gratis abrufbar sein - dann vielleicht schon ergänzt um die Wählerstromanalyse zur nächsten Nationalratswahl.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2019)

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