Die Europäische Union und die Bosnien-Schizophrenie

In Südosteuropa funktioniert die EU nach wie vor in ihrer Grundidee: als gewaltiges Friedensprojekt. Doch die EU muss handeln, um diesem Ruf gerecht zu werden.

Es war ein fast skurriles Déjà-vu: Das serbische Volk werde in Bosnien und Herzegowina benachteiligt, donnerte Milorad Dodik vor einer Woche in Wien. Und der Präsident von Bosniens „Serbischer Republik“ ging noch weiter: Sollten die Volksgruppen in dem südosteuropäischen Land keine Lösung für ihr weiteres staatliches Zusammensein finden, werde es eben zerfallen – und das wäre keine Tragödie. Was Dodik von sich gibt, erinnert frappant an das, was vor etwas mehr als 20 Jahren in Bosniens Parlament zu hören war: Damals waren die Auseinandersetzungen freilich heftiger. Damals wurde der Überlebenskampf der einzelnen Völker beschworen und von Serbenführer Radovan Karadžić ein Blutbad vorausgesagt, sollte aus der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina ein eigener Staat werden. Und Karadžić sorgte dafür, dass aus seiner Prophezeiung brutale Wirklichkeit wurde.

Heute droht Bosnien und Herzegowina kein Krieg, und Milorad Dodik ist trotz aller nationalistischen Anflüge natürlich nicht Radovan Karadžić. Doch die Diskussion scheint im Kern dieselbe wie vor 20 Jahren: Soll ein multiethnischer Staat aus Bosniaken (bosnischen Muslimen), bosnischen Serben und Kroaten erhalten bleiben? Oder sollen die Volksgruppen getrennte Wege gehen?

Die zahlenmäßig stärkste Gruppe, die Bosniaken, will einen multiethnischen Staat mit starker Zentralgewalt. Die Führung der „Serbischen Republik“ verlangt hingegen möglichst große Eigenständigkeit bis hin zur Abspaltung. Und nicht wenige bosnische Kroaten wünschen sich ebenfalls ihren eigenen Landesteil. So wie vor 20 Jahren können serbische und kroatische Nationalisten mit der Existenz eines bosnischen Staates nichts anfangen. Wenn aber heute das Grundproblem ähnlich gelagert ist wie damals, stellt sich die Frage: Was hat das internationale Konfliktmanagement in den vergangenen 20 Jahren erreicht?

Es war ein gewaltiger Erfolg, als 1995 nach drei Jahren der Kämpfe und schwerster Verbrechen das Blutbad in Bosnien durch den Dayton-Vertrag beendet wurde. Die Krux dabei: Das Abkommen musste alle Konfliktparteien zufriedenstellen. Also versuchte man die Quadratur des Kreises: Der Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina blieb erhalten. Er wurde aber aufgeteilt in die bosniakisch-kroatische Föderation und die „Serbische Republik“. Die Grenzen zwischen beiden Landesteilen lagen in etwa dort, wo sie durch Krieg und ethnische Säuberungen gezogen worden waren – ein Erfolg für Karadžić und die anderen nationalistischen Kriegstreiber.

Die Schizophrenie dieser Situation wurde von der internationalen Gemeinschaft weiter verschärft: Einerseits verstärkte man das ethnische Prinzip in Verfassung und Gesetzen, machte es in vielen Dingen entscheidend, ob jemand Bosniake, Serbe oder Kroate war. Andererseits versuchten die Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft, den Zentralstaat zu stärken. Wolfgang Petritsch tat das freundlich im Ton, aber mit harter Hand. Der Ex-Elitesoldat Paddy Ashdown arbeitete mit Kasernenhofmethoden. Und Valentin Inzko leidet heute darunter, dass die Autorität des Hohen Repräsentanten untergraben worden ist – weil man international und auch in Bosnien keinen „wohlwollenden Diktator“ mehr haben wollte.

Inzko leidet auch noch unter etwas anderem: darunter, dass sich in Europa niemand mehr wirklich darum schert, was in Bosnien geschieht. Die EU hat Bosniens Politikern klargemacht, dass ihr Land mit den komplizierten (von der internationalen Gemeinschaft entworfenen) Dayton-Strukturen nicht wird beitreten können. Eine innerbosnische Einigung auf neue Strukturen gibt es aber nicht. Die wird unter anderem von Politikern wie Dodik hintertrieben.

Die EU ist in einer schwierigen Phase, kämpft mit Wirtschafts- und Eurokrise und teils dysfunktionalen Strukturen. In Südosteuropa funktioniert sie aber nach wie vor in ihrer ursprünglichen Idee: als Friedensprojekt. Wenn die EU diesen Bonus behalten will, muss sie sich stärker als bisher engagieren und Bosniens Politikern dabei helfen, eine Einigung herbeizuführen: damit 20 Jahre nach Kriegsbeginn die Weichen endgültig in Richtung eines wirklichen Friedens gestellt werden können.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2012)

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