Ein Umfragenbild, das es eigentlich nicht geben dürfte

Symbolbild: Plakate von SPÖ und ÖVP
Symbolbild: Plakate von SPÖ und ÖVP(c) REUTERS (HEINZ-PETER BADER)
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Dass die ÖVP kurz vor der Nationalratswahl in fast allen Umfragen bei 33 Prozent liegt, verwundert den Politologen Filzmaier. Meinungsforscher Oberhuber kritisiert, dass im Zuge des Wahlkampfes "demoskopische Elefanten" geboren wurden.

Meinungsforschung ist eine unangenehme Angelegenheit. Zumindest kann sie zu einer solchen werden, wie zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen. Man erinnere sich nur an die letzte Wien-Wahl oder die im Vorjahr (endlich final) geschlagene Bundespräsidentenwahl. Da lag nach dem ersten Durchgang Norbert Hofer, seines Zeichens Vizeparteichef der FPÖ, auf Platz eins, obgleich die Umfragen anderes hatten erwarten lassen. Damals machte Erich Neuwirth, langjähriger Statistik-Professor an der Uni Wien, gegenüber dem ORF dafür vor allem die Österreicher selbst verantwortlich. Denn: Die Institute finden längst nicht mehr so viele Interviewpartner, wie sie gerne möchten, wodurch die Schwankungsbreite oftmals größer sei als angegeben.

Seither, so räumt der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier im Gespräch mit der "Presse" ein, sei aber vieles besser geworden. So hätten sich die Meinungsforscher auf mehr Qualitätskriterien verständigt. Etwa eine Mindestumfragengröße von 800 Personen, die sich klar als Wähler deklarieren, keine reinen Online-Umfragen. Und vor allem: kein reißerisches Titeln. Gerade letzteres werde nicht immer angenommen. "Das Rennen zwischen SPÖ und FPÖ um Platz zwei ist in fast jeder Umfrage der vergangene Wochen innerhalb der Schwankungsbreite gelegen. Es handelt es sich um ein reines Scheinrennen", meint er. Florian Oberhuber vom Meinungsforschungsinstitut Sora ergänzt: "Immer wieder werden Veränderungen von nur einem Prozentpunkt als Änderung interpretiert, obwohl das eine reine Zufalls-Schwankung ist." Zum Teil werde so "aus einer nicht-signifkanten Mücke ein demoskopischer Elefant gemacht.

Und Oberhuber fügt hinzu: "Seriös publizierte Umfragen informieren jedenfalls über Befragungszeitraum, Befragungsmethode, Stichprobengröße, Auftraggeber und Institut." Natürlich müsse es sich um Zufallsstichproben handeln. Denn: "Es kann eine sehr große Stichprobe verzerrt sein, wenn darin bestimmte Gruppen systematisch unterrepräsentiert sind."

Der Eindruck, dass manche Umfragen für manche Parteien schöner aussehen, als sie sollten, kam zuletzt dennoch auf. So argumentiert Laurenz Ennser-Jedenastik vom Institut für Staatswissenschaft an der Universität Wien in seinem Blog, dass die hohe Konstanz in den Werten bei der Volkspartei bei unabhängigen Zufallsstichproben unwahrscheinlich ist. Immerhin lag die Volkspartei in nahezu jeder Umfrage bei 33 Prozent, vereinzelt bei 34 Prozent. Ähnliches konstatiert Filzmaier: "Rein statistisch gesehen - Umfragen haben ein Konfidenzintervall* von 95 bis 97 Prozent - hätte es dieses einheitliche Umfragenbild nicht geben dürfen; rein statistisch müsste es Ausreißer aufgrund von Zufallsfehlern geben." Dass diese nicht aufgetreten sind, "verwundert den Wissenschaftler".

Zwar räumt der Politologe ein, dass die Rohdaten im Regelfall nicht veröffentlicht wurden (hier würde man etwaige Ausreißer sehen), doch dränge sich dennoch der Eindruck nach einem "möglichen Anpassungsdruck der Meinungsforscher" - im Fachjargon "Herding" genannt - auf. Filzmaier: "Als Einziger mit einem völlig abweichenden Ergebnis bekannt zu werden, das auch auf Zufallsfehler zurückführbar sein kann, ist zugegeben schwierig."

Sehnsucht nach der Kristallkugel

"Bei der Politik, den Medien und den Lesern gibt es offenbar eine zutiefst menschliche Sehnsucht nach der Kristallkugel. Diese aber gibt es nicht", räumt Filzmaier ein. Das Einzige, was man wirklich aus Hochschätzungen - und nichts anderes sind Umfragen - ablesen könne, seien Trends. Zu einem solchen zähle die Führungsposition der (nun türkis gefärbten) Volkspartei unter einem Frontmann Sebastian Kurz. Allerdings: Ob der Spitzenkandidat seine Partei so deutlich als Erster ins Ziel werde führen können, sei noch nicht fix, verweisen die Experten auf die drei Arten von Wählern (siehe weiter unten) - und die vielen Unentschlossenen im Land.

Konkret: "Unbestritten ist, dass es etwa 15 Prozent noch unentschiedene Wähler gibt, das sind in absoluten Zahlen bis zu fast einer Million", so Filzmaier unterstützt von Oberhuber. Einige von diesen, das zeige die Erfahrung, dürften noch zu Nichtwählern werden.

Daneben unterscheidet die Wissenschaft zwischen Early Decidern, Late Decidern und Last Minute Decidern. Erstere, auch Frühentschlossene gerufen, hätten ihren Entschluss, wo sie am 15. Oktober das Kreuzerl am Stimmzettel machen werden, schon kurz nach der Ausrufung von Neuwahlen gefasst; sie machen mit rund vier Fünftel der Wählerschaft (endgültige Zahlen liegen erst mit der Wahltagsbefragung vor) die größte Gruppe aus. Die Spätentschlossenen legen sich etwa zwei bis drei Wochen oder kürzer vor dem Stichtag fest und machen in der Regel bis zu 20 Prozent aus. Die etwa zehn Prozent der sogenannten Letztentschlossenen ringen sich in den zwei bis drei Tagen vor dem Urnengang zu einer Partei durch, der sie ihre Stimme schenken - ganz selten fällt der Entschluss erst in der Wahlkabine. "Bei ihnen handelt es sich um eine kritische Restgröße", so Politologe Filzmaier, "sie können Änderungen in die eine oder andere Richtung bewirken - etwa, ob eine Partei 3,99 oder doch sechs Prozent erhält."

Vom "Fallbeil" über "Mitläufer" zur "Solidarisierung"

In dramatischeren Worten: Sie entscheiden schon mal über das politische Überleben einer Gruppierung. Aber tun sie das wegen der zuvor gelesenen Umfragen? "Grundsätzlich wird der Einfluss von Umfragen überschätzt", sagt Oberhuber. "Wahlentscheidend sind in erster Linie die Kandidaten, die Botschaften und wie gut die Kampagnen organisiert sind - und wie das alles zur Stimmung in der Bevölkerung passt. Dann kommt einmal lange nichts." Filzmaier beantwortet die Frage nach dem Wahlentscheidungspotenzial von Umfragen indes mit einem eindeutigen "Jein". "Es gibt mehrere mögliche Effekte, aber nur einen, der wirklich nachgewiesen ist - der Fallbeileffekt." Darunter versteht man, dass antretende Listen, denen prognostiziert wird, dass ihnen der Einzug ins Parlament mit Sicherheit nicht gelingen wird, noch weniger gewählt werden, als ohnehin. Gemeint sind im aktuellen Fall Gilt, die Weißen, KPÖ Plus und die FLÖ.

Zwei weitere Effekte, die einander widersprechen, und nur in Einzelfälle auftreten sind der "Mitläufereffekt" (Menschen wollen im Zweifel auf der Siegerseite stehen und wählen daher den Umfragenkaiser) und der "Solidarisierungseffekt" (mit dem vermeintliche Verlierer, weil dieser ja jede Stimme nötig habe). Ob die SPÖ von letzterem Effekt noch profitieren könnte, bezweifelt Filzmaier stark. Zwar sei den Sozialdemokraten das nach dem aufgeploppten Bawag-Skandal im Jahr 2006 geglückt, "eine Vergleichbarkeit aufgrund des jetzigen Dirty-Campaigning-Falles sehe ich aber nicht".

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* Ein Konfidenzintervall gibt den Bereich an, der bei unendlicher Wiederholung eines Zufallsexperiments mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die wahre Lage des Parameters einschließt.

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