„Bruno Kreisky würde sich im Grab umdrehen“

NATIONALRAT. Inoffizieller Wahlkampfstart und Abrechnung mit der Großen Koalition.

Wien. Wahlkampfauftakt am Dienstag im Nationalrat: Nachdem Noch-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer mäßig enthusiastisch eine Erfolgsbilanz „seiner“ Regierung vorgetragen hatte, ergriff Finanzminister Wilhelm Molterer die Gelegenheit, sich in den wahlkämpfenden Spitzenkandidaten der ÖVP zu verwandeln. „Die Arbeit der Regierung war in den letzten Monaten so, dass viele wichtige Entscheidungen nicht mehr getroffen werden konnten.“ Nun sei es die Pflicht der ÖVP, wieder für Klarheit und Handlungsfähigkeit zu sorgen.

Die Stimmung bei der Nationalratssitzung nur einen Tag nach dem Scheitern der Koalition war gereizt: Regierungs- wie Oppositionsparteien versuchten, ihre Profile zu betonen und sich gegenüber den anderen Parteien abzugrenzen. Als Scharfmacher der SPÖ kritisierte Klubobmann Josef Cap, dass die Koalition von Anfang an nicht funktioniert habe, da die ÖVP seiner Partei „den Kanzler geneidet“ habe.

Molterer gab sich betont staatsmännisch, als er die Anliegen der ÖVP skizzierte: Sicherheit, Wirtschaftswachstum, Schaffung einer Pflegeversicherung, Deutschkenntnisse von Migranten schon bei der Zuwanderung – und ein klares Bekenntnis zu Europa. Dafür erntete Molterer neben viel Applaus von der eigenen Fraktion auch laute Protestrufe von Grünen und FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache.

Schlechteste Große Koalition

Grünen-Chef Alexander Van der Bellen bezeichnete die gescheiterte Regierung als „die schlechteste Große Koalition seit 1945“. Auch er nützte die Sitzung zum Wahlkampfauftakt und nannte die Grünen Kernthemen: Reformen im Gesundheitswesen, Ausbau der Alternativenergien, Kinderbetreuung, Bildung und Forschung. Verpflichtende Deutschkenntnisse für Migranten lehnen die Grünen ebenso ab, wie zu viel Macht für den Sicherheitsapparat.

Strache musste seinen üblichen Tonfall nicht ändern, um wahlkämpferisch zu wirken. „Die Angelobung für den Urlaub hätte man sich sparen können“, urteilte der FPÖ-Chef über die Regierungsumbildung im Innen- und im Frauenministerium. SPÖ-Spitzenkandidat Werner Faymann lasse Profil vermissen und sei, gleich „einem Soletti – immer dabei.“

Strache betonte zudem, dass der EU-Vertrag durch die Ablehnung Irlands nichtig sei – ein Umstand, den Cap zuvor auch in der „Aktuellen Stunde“ hervorgehoben hatte. Die SPÖ bekenne sich zu einem Europa unter „Mitwirkung der Bürger“. Wenn aber nur 28 Prozent der Österreicher der EU wohlwollend gegenüberstehen, müsse die Politik handeln. „Bruno Kreisky würde sich beim Kniefall vor einer Boulevardzeitung im Grab umdrehen“, kritisierte die Grüne Ulrike Lunacek den von SPÖ-Spitze in einem Brief an die „Kronen Zeitung“ angekündigten Schwenk in der EU-Politik.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2008)

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