Was uns mit dem Urmenschen verbindet

Vor 70.000 Jahren richtete sich ein affenähnliches Tier auf und lief fortan als Mensch durchs Leben. Seit damals hat sich in unserem Gehirn wenig verändert. Auch wenn wir längst am Schreibtisch sitzen.

Viele Tiere warnen einander bei Gefahr. Ein panisches „Vorsicht, Löwe!“ schafft so manche Spezies. Ganz anders bei „Achtung, an der Flussbiegung jagt ein Löwe eine Büffelherde. Weil er abgelenkt ist, können wir uns von hinten anschleichen.“

Derart präzise Informationen kann nur einer formulieren: der Homo sapiens. Irgendwann in den vergangenen 70.000 Jahren mutierte sein Gehirn, was ihn befähigte, große Informationsmengen weiterzugeben und daraus so komplexe Handlungen wie die konzertierte Jagdstrategie für einen Löwen abzuleiten.

Was das alles mit uns zu tun hat? Viel, sagt Yuval Noah Harari, Autor des neu aufgelegten Bestsellers „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. In jener Ära entwickelte der Homo sapiens noch zwei weitere Fähigkeiten, die uns schon zeitgeistiger vorkommen.

Der Kitt, der zusammenhält

Zum Einen lernte er, sich mit seinen Artgenossen über andere Mitglieder des Stamms auszutauschen. Tratsch und Klatsch sagen wir heute dazu. Den Unterton der Verachtung sollten wir besser weglassen: Tratsch und Klatsch sind der soziale Kitt, der Gemeinschaften zusammenhält. So war es dem Homo sapiens erstmals möglich, große Rudel mit bis zu 150 Exemplaren zu bilden.

Bis heute markiert das eine magische Grenze: So manches blühende Familienunternehmen, so manches erfolgreiche KMU bricht auseinander, wenn es auf über 150 Mitarbeiter expandiert. Diese lassen sich einfach nicht mehr direkt führen.

Zum Anderen lernte der Homo sapiens damals, sich Dinge auszudenken, die gar nicht existieren (einen Löwengott). Seine Hirngespinste teilte er mit seinem Rudel. So entstanden neue Wirklichkeiten, Mythen und Legenden, die die Gruppe noch enger zusammenschweißten.

Harari sieht die Parallele zu heutigen Konzernen und ihren Markenwelten: Zwei Google-Mitarbeiter, die sich nie gesehen haben, kommunizieren mühelos über den Erdball hinweg – weil sie an denselben Google-Mythos glauben.

Für die Evolution sind 70.000 Jahre nicht mehr als ein Wimpernschlag. Doch noch heute kommen vieler unserer tagtäglichen Probleme daher, dass unsere Gehirne einfach keine Zeit hatten, sich auf ein Leben als Arbeiter und Angestellte umzustellen.

Die Luxusfalle schnappt zu

Vor 14.000 Jahren fanden die Jäger heraus, wie man Weizen anbaut. Sie legten Felder an, pflügten und bewässerten sie. Mit dem freien Umherstreifen war es vorbei. Der Homo sapiens baute Hütten und wurde sesshaft, in der wilden Hoffnung, dank reicher Ernten nie wieder Löwen und Büffel jagen zu müssen. Dass sein Körper von der ungewohnten Arbeit schmerzte, dass er tagein, tagaus Getreidebrei essen musste, nahm er in Kauf – im Glauben an eine bessere Zukunft.

So wie viele junge Menschen heute, sagt Harari, die in einen Knochenjob hineinbuttern, um mit 40 ausgesorgt zu haben. Auto, Hypothek und schulpflichtige Kinder später erkennen sie, dass es keinen Weg zurück in ein Leben der Freiheit und des einfachen Standards gibt. Die Luxusfalle schnappt zu.

Natürlich gibt es immer wieder Don Quijotes, die sich den Segnungen der Moderne widersetzen. So wie es Jäger gegeben hat, die nicht sesshaft werden wollten, gibt es Technologieverweigerer, die Smartphones ablehnen. Aber auch sie sterben irgendwann aus.

Der beste Mythos gewinnt

Irgendwann verlangten besonders ausgefuchste Homo sapiens von den Bauern einen Teil ihrer Ernte. Andernfalls würden sie ihre Felder zerstören. Gegen gewöhnliche Plünderer konnten sich die Bauern wehren. Nicht aber gegen jene, die behaupteten, von den Göttern entsandt zu sein: Wer den besten Mythos hinter sich hatte, bekam den höchsten Tribut. Umgelegt auf heute: Wer die beste Markenstory hinter sich hat, macht den größten Umsatz.

Übrigens: Die ältesten Schriften, die je gefunden wurden, waren Steueraufzeichnungen der Sumerer (3500 v. Chr.).

Hat die Geschichte ein Ziel?

Vor 12.000 Jahren gab es noch zehntausende verschiedene Kulturen. 1450 n. Chr. hatten Händler und Pilger Europa, Asien und Afrika zu einer Megawelt verbunden, der schon 90 Prozent der Menschen angehörten. Heute leben wir alle im selben politischen System (Nationalstaaten) und im selben Wirtschaftssystem (Marktwirtschaft). Über kurz oder lang werde die Geschichte das Ziel erreichen, dem sie seit jeher entgegenstrebt, sagt Harari: dass alle Kulturen, so verschieden sie auch sein mögen, zu einer einzigen zusammenwachsen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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