Warum Mercedes-Fahrer den Vorrang nehmen

Wer sich mächtig fühlt, so Berkeley-Professor Dacher Keltner, wird grob, unhöflich und respektlos. Denn Machtrausch komme einer Verletzung des Gehirns gleich. Das gilt für rücksichtslose Autofahrer wie für Präsidenten.

Welche Marken fahren Autofahrer, die anderen den Vorrang nehmen? Der kalifornische Psychologieprofessor Dacher Keltner postierte seine Studenten an einer belebten Kreuzung nahe der Universität Berkeley und ließ sie aufschreiben, welche Automarken Verkehrssünder fuhren. Die Studenten sollten auch festhalten, welche Gefährte Zuvorkommende fuhren.

Ergebnis: Je teurer das Auto, desto weniger hielt sich der Fahrer an Regeln; je schrottreifer das Auto, desto zuvorkommender der Fahrer. Ganz oben auf der Sünderliste standen (in den USA) Mercedes-Fahrer: 29,6 Prozent nahmen die Vorfahrt; 46,2 Prozent schnitten Fußgänger auf dem Zebrastreifen. Ganz unten fanden sich „alte Dodges und andere Klapperkisten“. Hier nahmen nur 7,7 Prozent die Vorfahrt und kein einziger den Vortritt.

Nun: Kalifornien ist nicht Österreich, ein Uni-Campus kein Bevölkerungsquerschnitt. Aber Keltner ging es auch nicht um Autofahrer. Sein Thema ist Macht und wie sie den Charakter verändert.

Wer sich mächtig fühlt, folgerte er nach zahlreichen Versuchen, findet es in Ordnung, sich schlecht zu benehmen, Regeln zu verletzen, seine Frau zu betrügen und Steuern zu hinterziehen. Keltner beobachtete, dass Macht im Gehirn eine ähnliche Veränderung hervorruft wie Verletzungen des Frontallappens nach einem Schädeltrauma. Machtrausch komme also einer Verletzung des Gehirns gleich.

Der florentinische Philosoph Niccolò Machiavelli verstand unter Macht etwas, das eigen-„mächtig“ an sich gerissen und mit Gewalt, Zwang und Hinterlist ausgeübt wird. Ethiker Keltner sieht das anders: Macht wird von der Gemeinschaft verliehen, die damit gute Taten zu ihrem Wohl honoriert. Der Er„mächtigte“ kann damit Einfluss nehmen: „Macht auszuüben bedeutet, etwas in der Welt verändern zu können“, definiert Keltner.

So ist für ihn Lady Gaga als Symbolfigur für Toleranz und Selbstverwirklichung mächtig, weil sie Einfluss auf Millionen Fans hat. Hitler hingegen oder Stalin, argumentiert er, wurden umso brutaler, je mehr ihre Macht schwand. Das Phänomen lasse sich oft beobachten: Wer sich macht- und hilflos fühlt, wird aggressiv. Wer hingegen Optionen habe, finde andere Wege.

Warum Macht korrumpiert

Für eine andere Studie ließ Keltner Erstsemestrige den im Recruiting beliebten „Big Five“-Persönlichkeitstest zweimal absolvieren: zunächst bei der Ankunft an der Uni und fünf Monate später. Je höher die „Big Five“-Werte gestiegen waren, desto mehr Einfluss hatten die Studenten gewonnen: indem sie hilfsbereit waren (Dimension Extraversion), kooperierten (Verträglichkeit), Ziele und Normen beachteten (Gewissenhaftigkeit), Ruhe ausstrahlten (geringe Ausprägung an Neurotizismus) und sich für andere interessierten (Offenheit).

Doch dann trat das Machtparadoxon auf den Plan: Kaum an den Status gewöhnt, verändert Macht die Persönlichkeit. Alle Tugenden, die zur Macht verholfen haben, verschwinden wieder. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von anderen weg hin zu sich selbst. „Wir verlieren unsere Empathie“, sagt Keltner, „raffen an uns, was wir bekommen können, werfen Demut und Dankbarkeit über Bord und setzen andere herab.“ Vergleiche zu Politikern drängen sich auf, und der Kreis zu den Mercedes-Fahrern schließt sich.

Nun ist wieder die Gemeinschaft am Zug. Wer ihr nicht mehr dient, wird in Keltners Modell wieder entmachtet. Dabei wäre es so einfach, den Absturz zu vermeiden. Dauerhaft mächtig bleiben jene, die stets die Werte hochhalten, die ihnen zur Macht verholfen haben.

(Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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