Wenn „Rain Man“ in die Arbeit geht

Weltautismustag 2. April. Autismus ist nicht länger ein Grund, keinen Beruf zu lernen. Sind die Betroffenen erst einmal fit für das System gemacht, können sie ihre speziellen Begabungen einsetzen. So man sie lässt.

Zwei Lehrlinge unterhalten sich in der Pause. Der eine redet nur über U-Bahnen, sein großes Hobby. Der andere ist schwer begeistert von Steckdosen. Jeder spricht nur über sein Thema, was der andere sagt, interessiert ihn nicht. Als die Pause vorüber ist, stehen sie grußlos auf und gehen in verschiedene Richtungen ab.
Unhöflich? Keineswegs. Die beiden sind dicke Freunde. Dass keiner auf den anderen eingeht, tut nichts zur Sache. Nach ihrem Gefühl unterhalten sie sich bestens.

Inselbegabungen

Bei beiden Lehrlingen ist eine Störung aus dem Autismus-Spektrum diagnostiziert. Typisch dafür sind abweichende Kommunikationsmuster und ein stark eingeschränktes Interessensfeld. Darin verstecken sich allerdings oft herausragende Inselbegabungen, etwa in Mathematik (so wie bei Dustin Hoffmans Oscar-Darstellung des „Rain Man“), in Musik oder Merkfähigkeit.
Früher war Autismus ab einem bestimmten Schweregrad ein gnadenloses Urteil, das Leben versteckt im Elternhaus oder in Heimen zu verbringen. Ohne Aufgabe und ohne Freunde, aber so gut wie immer begleitet von Depressionen und Selbstwertstörungen.
Dieses Schicksal kann vielen heute erspart bleiben. Autismus ist nicht länger ein Grund, keinen Beruf zu lernen. In Wien organisiert der Dachverband Österreichische Autistenhilfe (www.autistenhilfe. at) gemeinsam mit dem Werkstätten- und Kulturhaus WUK (www. wuk.at) Lehrstellen für betroffene Jugendliche. Etwa als Mechatroniker, Tischler, Koch oder pharmazeutische Assistenz: „Wir unterstützen sie nicht kognitiv“, erläutert Psychologe Martin Felinger, „wir machen sie fit für das System.“

Lerne pünktlich zu sein

Fit machen heißt zunächst, den künftigen Lehrlingen die Regeln des Arbeitslebens zu vermitteln. In Jobcoachings lernen sie, sich selbst zu organisieren (etwa pünktlich zu sein, womit auch die normalen Jugendlichen kämpfen), ihren Arbeitsplatz für sich passend zu gestalten und mit ihren Emotionen – Frustration, Ärger – umzugehen. Und sie lernen die Geheimnisse der für sie so komplizierten sozialen Interaktion. Einfühlungsvermögen ist Autisten fern, auch in Mimik und Gestik zu lesen ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Felinger: „Sie wollen ja gern Freunde finden. Aber sie wissen nicht wie.“
Als einziges von mehreren in diesem Bereich aktiven Unternehmen geht Siemens mit seinen autistischen Lehrlingen an die Öffentlichkeit. Seit fünf Jahren bildet der Konzern jährlich zwei (geförderte) Mechatroniker aus. Manche Talente überraschen selbst Projektleiter Robert Burschitschek: „Einer Gruppe habe ich den Programmierauftrag gegeben, eine Diode zum Leuchten zu bringen. Einer der Autisten war schnell fertig und hat das Programm einfach weitergeschrieben. Am Ende hat er einen Stellmotor eine Drehbewegung machen lassen.“ Nachsatz: „Und die Diode hat auch geleuchtet.“

Gut für den Umgangston

Weil Autisten Ideen haben, auf die andere nicht kommen würden, brauchen sie präzise Anweisungen. Was nicht gesagt wird, wird nicht gemacht. Manche Sätze muss Burschitschek wiederholen, in andere Worte fassen, bildhaft darstellen. „Den anderen ist das ganz recht. Sie hätten sich nicht getraut nachzufragen.“ Oder die Burschen setzen sich zu ihrem Kollegen und erklären ihm die Sache noch einmal: „Oft wurlt es, das macht Spaß“, sagt Burschitschek, „da steht die Gemeinschaft dahinter.“
Gut tun die Kollegen auch dem Umgangston. Denn mit Sarkasmus und derben Scherzen, wie sie unter Männern vorkommen, fangen sie rein gar nichts an.

(Print-Ausgabe, 01.04.2017)

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