Werte: Was uns eint, was uns trennt

Clemens Fabry
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Was meinen wir, wenn wir von Werten sprechen: Menschenrechte oder Marillenknödel? Die Gleichstellung von Homosexuellen oder das traditionelle Familienmodell? Versuch einer Klärung.

Der Begriff „Werte“ stammt aus der Ökonomie. Dass er verwendet wird, um wünschenswertes Verhalten, Ideale, Normen und Errungenschaften zu bezeichnen, ist relativ neu. Früher sprach man von Gesetzen, an die man sich zu halten hatte, von Moral, von Etikette, auch von religiösen Vorstellungen – aber einen diffusen Sammelbegriff für all dies scheinen wir seit Ende des 19. Jahrhunderts zu brauchen, und der Begriff „Werteverfall“ ist gar erst ein paar Jahrzehnte alt.

Wo moralische Gewissheiten aufweichen, wo die Einheitlichkeit einer Gesellschaft bedroht ist, ob durch langhaarige Hippies oder bärtige Muslime, ob durch Minirock oder Kopftuch, schlägt die Stunde „unserer Werte“. Auf sie scheinen wir uns leicht einigen zu können. Dabei meint der eine die Gesetze, auf denen die moderne Gesellschaft beruht, der andere die Ideale des christlichen Abendlandes, der Dritte vielleicht Plakate ohne Anglizismen und eine Straße ohne türkischen Pizzabäcker.

Die Folgen der Aufklärung. Nimmt man die 2013 vom damaligen Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz verantwortete Broschüre über das „Zusammenleben in Österreich“ zur Hand, ist die Sache klar: Die „Werte, die uns verbinden“ (so der Untertitel) stehen in Verfassungsrang: Gewaltenteilung, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit. Weiter hinten wird erklärt, dass der Staat „die Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger“ hochhalten muss. Dass jeder die Freiheit habe, „eigener Meinung zu sein und diese auch öffentlich kundzutun“. Dass Österreich eine demokratische Republik ist, ihr Recht vom Volke ausgeht und der Staat ein Gewaltmonopol hat.

Es sind Prinzipien, auf die man sich geeinigt hat. Sie sind hart errungenes Erbe der Aufklärung. Und doch waren und sind sie immer noch wild umstritten, die Gesellschaft ist im steten Wandel: Für wen gilt etwa der Gleichheitsgrundsatz? Noch 1965 wurden in den USA Schwarze, die für ihr Wahlrecht demonstrierten, von Polizisten mit Schlagstöcken geprügelt, zum Teil durch Pferde niedergetrampelt und von weißen Passanten beschimpft und bespuckt. Frauen waren bis zur großen Gesetzesreform durch Kreisky 1975 den Männern unterstellt, diese durften ihren Frauen verbieten zu arbeiten und mussten unterschreiben, wenn sie ein Konto eröffnen wollten. Bis vor 1977 hatten Eltern ein verbrieftes Züchtigungsrecht für ihre Kinder.

Längst sind Frauen zumindest rechtlich gleichgestellt, dass Schwarze nicht wählen durften, erscheint uns als ungeheuerlich, und statt des Züchtigungsrechts gibt es ein Recht des Kindes auf gewaltlose Erziehung. Gesetze sind der direkteste Ausdruck der Werthaltung einer Gesellschaft – jeder Wandel lässt sich an ihnen ablesen.
Und ihr großer Vorteil: Man muss gar nicht darauf pochen, dass die dahinter stehenden Prinzipien geteilt werden, der Staat muss nicht unsere Gedanken kontrollieren. Es reicht, dass die Übertretung des Gesetzes geahndet wird.

Das Dilemma mit dem Händeschütteln. Wie agieren wir Frauen, wenn uns ein Mann den Handschlag verweigert? Eine Grazer Lehrerin will den Vater einer Schülerin deshalb sogar klagen – die steirische Gleichbehandlungsanwältin meinte dazu, dass hier zwei Grundrechte einander gegenüberstünden: Gleichbehandlung und freie Religionsausübung. Auch wenn die Klage wohl auf tönernen Füßen steht – am Thema Handschlag lässt sich gut die Komplexität sozialer Normen erläutern. Denn einerseits erscheint er uns als selbstverständlich, ein Handschlag ist Zeichen des Respekts, andererseits weiß man, dass manche Kinder sich gegen dieses Ritual sträuben: Jemandem die Hand zu geben bedeutet eine Berührung. Soll man eine Berührung durch ein Gesetz erzwingen dürfen?

Die Durchsetzung von gesellschaftlichen Normen geschieht oft über sozialen Druck. Wir bestehen etwa auf Pünktlichkeit, wir rufen zur Ordnung, wenn sich einer in der Schlange vordrängt, bitten denjenigen um Ruhe, der im Zug neben uns allzu laut in sein Handy brüllt. Unser Zusammenleben ist durch viele unausgesprochene Regeln geprägt, die uns zum Teil gar nicht mehr auffallen, weil wir sie längst internalisiert haben: Wie viel Abstand wir halten, wie laut wir sprechen, wie sich Frauen gegenüber Männern, Männer gegenüber Frauen, beide gegenüber Kindern verhalten.

Zum Teil werden, wenn sozialer Druck nicht genügt, um ein erwünschtes Verhalten herbeizuführen, Gesetze erlassen: In Österreich wurde der sogenannte Grapsch-Paragraf eingeführt. Bestraft wird, „wer eine andere Person durch eine intensive Berührung einer der Geschlechtssphäre zuzuordnenden Körperstelle in ihrer Würde verletzt“.

Hatte Houellebecq recht? Wenn wir von österreichischen Werten sprechen, gehen wir davon aus, dass sie einander ergänzen, dass sich, wenn wir die unterschiedlichen Puzzlesteine nur korrekt aneinanderfügen, ein kohärentes Bild ergibt. Doch sehr häufig schließen diese Werte einander sogar aus, und unterschiedliche Vorstellungen, etwa aufklärerische und religiöse, geraten miteinander in Konflikt. Deutlich wird dies etwa in der Debatte um die Ehe, die laut katholischer Denkschule heterosexuellen Paaren vorbehalten sein soll. Auch die Rolle der Frau wird von der Kirche prinzipiell konservativer definiert als vom Gesetzgeber. Selbst innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen verlaufen Bruchlinien. Die einen halten das Gleichnis des barmherzigen Samariters hoch, während etwa ein katholischer Präsidentschaftskandidat, damit das Gleichnis Jesu sehr eigenwillig interpretierend, einen Gegensatz zwischen „Nächstenliebe“ und „Fernstenliebe“ konstruieren will.

Immer wieder wird dabei betont, dass das Christentum sich an die Gesellschaft angepasst habe und nun der Islam gefordert sei, Gleiches zu tun. Tatsächlich hat die katholische Kirche einen weiten Weg zurückgelegt, von einer Abweichler mit Folter und Tod strafenden Macht zu einer Religion, die kompatibel mit der modernen Gesellschaft scheint und die Trennung zwischen Staat und Religion weitgehend akzeptiert hat.

Gerade dies gereicht ihr aber in Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ zum Nachteil. Der weich gewordene Katholizismus hat keine Widerstandskraft mehr; eine Gesellschaft, die sich modern gibt, sich aber in Wirklichkeit zutiefst nach verbindlichen Werten sehnt, wird vom Islam im Sturm genommen. Dieses Gedankenexperiment funktioniert freilich nur, weil sich die Werte beider Religionen ähneln, ob beim Keuschheitsgebot vor der Ehe, der Ablehnung der Homosexualität oder der Rolle der Frau – und auch in der Überzeugung, dass Moral Religion braucht, dass der Mensch ohne Glauben dem Bösen anheimfalle. Letzteres ein klarer Irrtum: In einer von US-Psychologen durchgeführten Studie erwiesen sich christliche und muslimische Kinder als weniger großzügig und empathisch als atheistische („Die Presse“ berichtete am 6. November 2015).

Aber warum hat das Christentum den Schritt in Richtung Moderne getan, während der Islam wesentlich autoritärer strukturiert ist? Das mag zu einem Teil daran liegen, dass es neben dem Alten noch ein Neues Testament gibt: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie“, antwortete Jesus jenen, die von ihm wissen wollten, ob eine Ehebrecherin getreu dem Gesetz Mose gesteinigt werden soll. Tatsächlich ist das Christentum so besser für die demokratische Gesellschaft gerüstet.
Entscheidender ist: Die Kirche hat ihre Macht nicht freiwillig abgegeben, sie wurde ihr Schritt für Schritt, Jahrhundert um Jahrhundert abgerungen.

Und unsere Wirtschaft? „Kostbare Ware, Herrlichkeit, Geld, Lohn, Preis“, so umreißt Kluges „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ den Begriff „Wert“. In der Einzahl meinen wir heute noch vor allem Materielles, in der Mehrzahl dagegen fast ausschließlich Immaterielles: Aber natürlich befürchtet mancher auch finanzielle Nachteile durch Flüchtlinge, etwa, dass unser Sozialsystem zu sehr strapaziert oder gar zerschlagen werden könnte. Ob Asylwerber uns längerfristig wirtschaftlich schaden (weil manche von ihnen keine Arbeit finden werden) oder nützen (weil Zuwanderung notwendig ist, um die sinkenden Geburtenzahlen auszugleichen), ist Gegenstand heftiger Debatten, wobei verschiedene Wissenschaftler aufgrund unterschiedlicher Daten zu einander widersprechenden Prognosen kommen.

Angst vor dem Wandel. „Trachten“, sagt das in Loden gewandete Paar zum Journalisten der ORF-Sendung „Report“: Unter österreichische Werte fallen für sie auch Trachten, und sie hätten gern, dass die Flüchtlinge sie kennenlernen. Muss ein Asylwerber wissen, wie man ein Schnitzel zubereitet – oder meinetwegen Nudelsalat? Und auf welche kulturellen Werte genau können wir uns einigen? Ist es egal, ob man Mozart schätzt, oder Falco oder Gabalier – Hauptsache, die Musik klingt nicht orientalisch?

Das mag überspitzt formuliert sein, aber dahinter steckt ein ernstes Problem: In einer Gesellschaft, die sich rasend wandelt, begegnen manche Menschen Veränderungen mit zunehmendem Unbehagen. Unbehagen, weil ihre Straße, ihr Viertel, ihre Stadt sich von der Straße, dem Viertel, der Stadt ihrer Kindheit unterscheidet – unter anderem, weil sich ein Dönerspieß dreht, wo früher Würstel gebraten und gesotten wurden, und der kleine Laden im Haus nun Kopftücher statt Eisenwaren feilbietet.

Doch kulturelle Werte können nicht verbindlich sein, das unterscheidet sie von Gesetzen und von Normen des Zusammenlebens. Wir können zwar verlangen, dass jeder, der in Österreich leben will, unsere Sprache lernt, weil das die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe ist – aber ob jemand in der Straßenbahn mit seinen Freunden Deutsch spricht, bleibt seine Angelegenheit.
Andere Fragen sind komplizierter zu klären: Wie halten wir es mit dem Kopftuch, gar mit dem Niqab, in der Schule und vor Gericht? Geht es hier um eine Äußerung kultureller Identität, oder tangiert das unser Zusammenleben, inwieweit hindert etwa ein Schleier, der nur die Augen frei lässt, die offene Kommunikation?

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