Liessmann: "Es wird ohnehin genug reformiert"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Nicht nur im Bereich Bildung diagnostiziert Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann "Veränderung um der Veränderung willen". Er sieht eine "Misstrauenskultur, die sich menschenfreundlich gibt", am Werk.

Die Presse: Sie gehören zur seltenen Spezies Mensch, die nicht laut nach Reformen ruft, ihnen sogar skeptisch gegenübersteht. Und dennoch nicht den Pflichtverteidiger der aktuellen Politik gibt.

Konrad Paul Liessmann: Es wird ohnehin genug reformiert. Würde man den Begriff der Reform in seiner ursprünglichen Bedeutung verstehen, würde deutlich, worin das Problem liegt: Reformieren hat einmal geheißen, etwas in seine ursprüngliche Funktion bringen, sich auf das Wesentliche besinnen, ein nicht mehr funktionierendes System verbessern. Was wir heute unter Reform kennen, ist meist weder Wiederherstellung noch Verbesserung. Sondern die Veränderung um der Veränderung und Beschäftigung willen: Reformsimulation. Im Bildungsbereich lässt sich das beobachten: Seit Jahren eine Reformflut – verbessert wird kaum etwas!

Das hat auch mit dem damit verbundenen Arbeitsaufwand des Einzelnen zu tun. Womit wir bei der Bürokratie wären: Wer ein kleines Unternehmen, etwa einen Lebensmittelladen, gründen will, erlebt einen Spießrutenlauf durch die Bürokratie.

Das ist komplex. Einerseits wünschen wir uns natürlich weniger Vorschriften und mehr individuelle Verantwortung. Das würde sicher die Wirtschaft beleben, das würde auch die Diskurse beleben, das würde vieles möglich machen. Andererseits sind wir immer weniger bereit, die notwendige Konsequenz dieser Freiheit zu übernehmen – nämlich das Risiko, das mit ihr einhergeht. Wenn zum Beispiel jemand einen Lebensmittelladen eröffnete und es gäbe keine detaillierten Bauvorschriften, und dann fällt tatsächlich einem Kunden die Decke auf den Kopf – dann sagen wir nicht: „Das gehört zum Risiko oder war einfach Pech“, sondern wir sagen: „Die Behörde hat versagt. Da fehlt eine Vorschrift. Da fehlen viele Vorschriften.“ Wir haben auf der einen Seite dieses rhetorische Bekenntnis zur Freiheit und auf der anderen Seite ein stark ausgeprägtes Sicherheitsdenken.

Ist das spezifisch österreichisch?

Da bin ich mir nicht so sicher, die Bürokratien nehmen überall zu. Wir sind von einer Misstrauenskultur durchdrungen, die sich menschenfreundlich gibt. Eine Illustration aus dem Bildungsbereich: Ein Lehrer oder Universitätsprofessor muss wesentlich mehr Vorschriften als früher beachten – alles natürlich in der menschenfreundlichen Absicht, Schüler und Studenten in einem Gefühl der Gerechtigkeit, der Sicherheit, der Fairness zu wiegen. Wir Professoren trauen uns nicht mehr zu, Studenten informell über Prüfungsbedingungen zu informieren. Dabei gehört genau das zur Eigenverantwortung eines Professors im Rahmen der Freiheit der Lehre. Wir sehen aber nur mehr die Studenten, die womöglich der Willkür eines Professors ausgesetzt sein könnten! Es mögen hundert Professoren alles richtig machen, aber wenn sich einer falsch verhält, müssen wir eine Vorschrift für alle machen. Das heißt, wir müssen jetzt Semester für Semester die Prüfungsbedingungen genau dokumentieren und festlegen, denn es muss alles transparent, geregelt und einklagbar sein. Dann darf man sich aber über die Zunahme bürokratischer Vorschriften nicht beklagen. Ich behaupte jetzt einmal, dass fast keine dieser Regelungen aus Willkür, aus böser Absicht, aus dem Willen des Staats heraus, Bürger zu drangsalieren, entsteht, sondern als Reaktion auf den Wunsch der Bürger nach möglichst viel garantierter Sicherheit, nach möglichst engen Rahmenbedingungen, die ihn davor schützen, der Willkür oder vermeintlichen Willkür eines anderen ausgesetzt zu sein.

Gegenbeispiel: Wir schaffen ein kompliziertes Rauchgesetz. In Italien wird klar verboten, früher durfte man überall rauchen. Beides trauen wir uns nicht.

Natürlich kann man sagen, dass das in der legistischen und technischen Durchführung unausgegoren war, auf der anderen Seite spiegelt sich für mich darin schon auch ein gewisses Unbehagen wider, Vorschriften für das Verhalten von Menschen, das sie eigentlich auch selbst regeln könnten, vorzugeben. Ich finde dieses Unbehagen aber produktiv.

Inwiefern?

Weil es dazu nötigt, sich über diese Grenze zwischen Eigenverantwortung und Bevormundung zu verständigen. Weil es dazu nötigt, darüber nachzudenken, ob ich es Menschen zumuten kann, selbst darüber zu entscheiden, in welches Lokal sie gehen, ob sie dort mit Rauchern oder mit Nichtrauchern sitzen wollen, oder ob ich Menschen prinzipiell für Kinder halte, denen klargemacht werden muss: „Das schadet eurer Gesundheit, das dürft ihr nicht tun.“ Als Nichtraucher bin ich auch froh über ein generelles Rauchverbot, gleichzeitig graut mir vor Verhältnissen, in denen jede Handlung einer gesetzlichen Regelung unterliegt. Auf der einen Seite – gerade von liberaler Seite – fordern wir gern mehr Freiheit und Eigenverantwortung, auf der anderen Seite können wir uns selbst gar nicht genug infantilisieren. Deshalb gibt es den Nanny-Staat, der uns eigentlich bemuttert.

Lehnen wir ihn zwar vordergründig ab, ängstigen uns aber ohne ihn?

Ja, das ähnelt der Kritik an der Regelungswut der Europäischen Union. Man kritisiert immer die Regeln, die einen in seinem eigenen Geschäft und in seinem eigenen Leben behindern, aber an den Regeln, die andere betreffen und uns vielleicht schützen, hat man großen Gefallen.

AKTION AUFBRUCH

„Die Presse“ hat – gemeinsam mit fünf Bundesländerzeitungen – am Samstag einen Appell für eine neue, mutige Politik formuliert. In der Samstagsausgabe sind 66 Personen des öffentlichen Lebens zu diesem Thema zu Wort gekommen, darunter Philosoph Konrad Paul Liessmann, der den Ruf nach Reformen durchaus kritisch sieht. Dabei und deshalb ist dieses Interview entstanden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2016)

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