Schmäh und Ende der Welt: Das"Presse"-Feuilleton rechnet ab

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Wer oder was uns 2016 begeistert, überzeugt, enttäuscht hat – von Böhmermann über Gravitationswellen bis hin zu Erkundungen jenseits des Sichtbaren.

Oper

Christine Ebenthal

GOLD: Dominique Meyer. Wiens Staatsoper kann längst alles, was an „Innovationen“ ab 2020 angekündigt wird: Starglanz im Repertoire, ein schlagkräftiges Ensemble und – apropos „Oper 4.0“ – Livestreaming in Topqualität . . .

SILBER: „Jesu Hochzeit“. Beim Carinthischen Sommer wagte sich das Stadttheater Klagenfurt an Gottfried von Einems einstige Skandal-Oper. Die Ehrenrettung gelang.

BRONZE: Operette in Ischl. Wie so oft, bewies Intendant Michael Lakner auch heuer wieder, dass das Genre, in dem Wien kaum noch etwas bewegt, höchst lebendig ist. 2016 gelang es mit Falls heikler „Rose von Stambul“.

SCHROTT: Kulturpolitik. Ausbootung erfolgreichen Kulturmanagers ohne Notwendigkeit.

URGESTEIN: Kurt Rydl. Der Wiener Bass zelebrierte am Ring in „Boris Godunow“ und am Gürtel als Tevje sein 40-Jahr-Jubiläum.

Klassik

Marco Borggreve

GOLD: Harriet Krijgh. Die holländisch-österreichische Cellistin wuchs in wenigen Jahren zu Weltformat und gestaltet ihren eigenen Zyklus im Wiener Musikverein.

SILBER: Thomas Larcher. Der Tiroler Unangepasste hat eine große Symphonie namens „Kenotaph“ komponiert, die von den Philharmonikern uraufgeführt wurde: Neue Musik von höchster Brisanz, fern aller „Ismen“.

BRONZE: Quatuor Mosaïques. Wiens Weltklasse-Ensemble bewegt das Publikum immer wieder tief mit Haydn, Beethoven und Schubert.

SCHROTT: Flötenuhr. Die Stadt Wien hat der Mozartgemeinde die Zuwendung für die Dotierung des einzigen weltweit bedeutenden Mozart-Interpretationspreises gestrichen.

URGESTEIN: René Clemencic. Seit Jahrzehnten ein Quell neuer Hörerfahrungen im unverzichtbaren Musikvereins-Zyklus.

Pop/Rock

Maria Mochnacz

GOLD: PJ Harvey. Furioses Konzert, fantastisches Album: „The Hope Six Demolition Project“ eint Gospel und Marschmusik in Songs über das Ende der Dinge.

SILBER: David Bowie. Freejazz und Weltangst regierten sein letztes Werk, dann fiel er aus der Welt: Zwei Tage nach Erscheinen von „Blackstar“ starb der größte Dramaturg des Pop.

BRONZE: Leonard Cohen. Auch er starb, verabschiedete sich mit „You Want It Darker“, einem dunklen jüdischen Requiem, mit den Worten „I'm ready, my Lord.“

SCHROTT: Andreas Gabaliers „MTV Unplugged“. Antielitärer Bodenrock der tiefsten Art, unverständlicherweise vom ORF gesendet.

URGESTEIN: Bob Dylan. „Yippie! I'm a poet, and I know it. Hope I don't blow it“, sang er 1962. Nun hat er den Literaturnobelpreis – und ihn nicht abgeholt. Yippie!

Hip Hop/Soul

Sony Music

GOLD: A Tribe Called Quest. Mit „We Got It from Here . . . Thank You 4 Your Service“ gelang nach 20 Jahren die triumphale Rückkehr auf Platz 1 der US-Charts. Grandioser Mix aus Soul und politischen Punchlines.

SILBER: Anderson Paak. Auf „Malibu“ zeigt sich der Sänger/Rapper mit der charismatischen Heliumstimme in absoluter Bestform.

BRONZE: Honne. Das britische Duo überrascht auf seinem Debüt „Warm on a Cold Night“ mit nachdenklichen Soul-Vignetten. Auch live in der Grellen Forelle ein Erlebnis.

SCHROTT: Lady Gaga. „Joanne“ stolpert zwischen Authentizität und Künstlichkeit herum. Trotz Staraufgebots sehr schales Ergebnis.

URGESTEIN: Dexys. Der alte Problemboy Kevin Rowland triumphiert auf „Dexys Do Irish and Country Soul“ mit Wanderarbeiterliedern und Klassikern im Soulgewand.

Theater

Reinhard Maximilian Werner

GOLD: „Ludwig II.“ im Akademietheater. Bastian Kraft gelang eine reduzierte, doch komplexe Dramatisierung nach Viscontis Film. Überragend: Markus Meyer in der Titelrolle.

SILBER: „Die Verdammten“ in der Josefstadt. Wieder nach Visconti: Elmar Goerden inszenierte die grandiose Familiensaga mit dem viel zu früh verstorbenen Heribert Sasse.

BRONZE: Theater an der Gumpendorfer Straße. Das TAG bietet seit Jahren wunderbares Schauspiel. 2016 hat es uns v. a. „Die Inseln des Dr. Moreau“ von Mara Mattuschka angetan.

SCHROTT: „Unsere Gewalt und eure Gewalt“. Die Uraufführung im Wiener Schauspielhaus im Rahmen der Festwochen ist komplett misslungen: Zynismus ohne Maß und Ziel.

URGESTEIN: Andrea Breth. Die geniale Regisseurin machte John Hopkins' Thriller „Diese Geschichte von Ihnen“ zum Ereignis.

Film

Filmladen

GOLD: „Toni Erdmann“. Maren Ades bissig-berührende Vater-Tochter-Komödie wurde in Cannes übergangen. Der internationalen Anerkennung tat das keinen Abbruch.

SILBER: „Brüder der Nacht“. Statt ein Milieu zustudieren, macht Patric Chihas ungewöhnliche Doku bulgarische Stricher in Wien zu Helden schillernder Kinofantasien.

BRONZE: „Doctor Strange“. Ein Blockbuster an sich – aber seine ästhetische Fabulierlust glich im Superheldenkino einer Mini-Revolution.

SCHROTT: „Batman v Superman“. Zack Snyder inszeniert den Comic-Showdown als Götterdämmerung. Bleischwere Hirnmarter.

URGESTEIN: „Elle“. Nach langer Pause kehrt Vulgärpoet Paul Verhoeven zurück – und liefert eine große, böse Satire mit Isabelle Huppert in Höchstform.

Fernsehen

ZDF/Ben Knabe

GOLD: Jan Böhmermann. Der Satiriker (ZDF) überschreitet bewusst Grenzen und forderte den türkischen Präsidenten Erdoğan 2016 mit seiner „Schmähkritik“ heraus. Mutig.

SILBER: „Landkrimi“. Kurios, anheimelnd und schwarzhumorig ging die superbe ORF-Krimitour durch das Land zu Ende. Lokalkolorit, der dem TV-Import-Mainstream trotzt.

BRONZE: Ursula Strauss. Die Wandlungsfähige war u. a. in „Pregau“ und als Anna Sacher zu erleben und hat mit reflektierten Interviews aufhorchen lassen. Ein positives Role Model.

SCHROTT: Hass gegen Journalistinnen. (Anonyme) Anfeindungen im Netz wie die gegen Puls-4-Moderatorin Corinna Milborn nach einem Hofer-Interview: schäbig und feig.

URGESTEIN: „Winnetou“. RTL belebte den Karl-May-Klassiker liebevoll neu.

Serien

Netflix

GOLD: „Stranger Things“. Der Netflix-Mystery-Hit mit dem 80er-Jahre-Flair beeindruckt mit stimmiger Ästhetik und tollen Kinderdarstellern. Wunderbar unheimlich!

SILBER: „Transparent“. Das derzeit authentischste und unkonventionellste Familiendrama mit Jeffrey Tambor als transsexueller Vater ging in die dritte Runde. Chapeau, Amazon.

BRONZE: „The Night Manager“. John Le Carrés Spionageroman, stilsicher und starbesetzt (mit Tom Hiddleston und Hugh Laurie) verfilmt. Starke Bilder, hochspannend.

SCHROTT: Die Revival-Welle. Die Fortsetzungen von „Full House“ und „Gilmore Girls“ boten nicht mehr als schale Nostalgie.

URGESTEIN: Superhelden. Unverwundbar: Marvel und DC bauen ihr Universum munter aus, etwa mit „Luke Cage“. 2017 geht's weiter.

Kunst

Mumok/Slovak National Gallery

GOLD: Július Koller (Mumok). Erste große Aufarbeitung des Werks des slowakischen Konzept-Stars, dessen Haltung zwischen Verweigerung und Einmischung tief beeindruckt.

SILBER: Russische Avantgarde (Albertina)/Klimt, Kupka, Picasso (Belvedere). Ex aequo. Hinreißend neue Herangehensweisen an zwei völlig unterschiedliche Perioden abstrakter Kunst.

BRONZE: Kleinklein für Damen. Viele Frauen-Ausstellungen, Renate Bertlmann beim Verbund, jüdische Malerinnen im JMW, Tina Blau im Belvedere – aber alle zu wenig prominent!

SCHROTT: Essl-Schließung, Husslein-„Hexenjagd“. Der Umgang mit verdienstvollen Persönlichkeiten der Museumswelt ist erbärmlich.

URGESTEIN: Hieronymus Bosch, Jahresregent. Wer 2016 nicht zur Retrospektive in 's-Hertogenbosch war, wird's nie mehr sein.

Literatur

Joyce Ravid

GOLD: „Null K“. Kurz vor dem Weltende lässt sich ein Superreicher für die Zukunft einfrieren: US-Meister-Romancier Don DeLillo war selten besser als hier.

SILBER: „Die Vegetarierin“. Südkoreanische Ehefrau entwickelt sich in Richtung Pflanze: Han Kangs verstörender Roman erhielt den Booker Prize – zu Recht, findet die „Presse“.

BRONZE: „Meine geniale Freundin“. Elena Ferrantes gelüftetes Pseudonym war der Literaturskandal des Jahres. Lesen wir lieber ihr Buch.

SCHROTT: „Das Schelling-Projekt“. Philosoph Sloterdijk tut, als feiere er den weiblichen Orgasmus – ein Roman als Selbstbefriedigung.

URGESTEIN: „Cox“. Christoph Ransmayr erzählt die Geschichte eines englischen Uhrmachers am chinesischen Kaiserhof: sprachlich mächtig und berückend, wie gewohnt.

Essay

Andreas Labes

GOLD: „Gegen den Hass“. „Wir dürfen uns nicht sprachlos machen“, verkündete Carolin Emcke, als sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Sie hat es vorgemacht.

SILBER: „Das Gefühl der Welt“. Gesellschaftliche Stimmungen machen Politik; Soziologe Heinz Bude hat uns geholfen, sie zu verstehen.

BRONZE: „The Shipwrecked Mind“. US-Kulturhistoriker Mark Lilla gräbt in der Geschichte reaktionären Denkens – mit Blick aufs Heute.

SCHROTT: „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“. „Queer-Theorie“-Vordenkerin Judith Butler zur Politik der Körper im Arabischen Frühling, in Europa: ein Dickicht voller Widersprüche.

URGESTEIN: „Topografie der Erinnerung“. Best of der Essays des österreichischen Autors und Vergangenheitsgräbers Martin Pollack.

Raum

MIT

GOLD: Gravitationswellen. Ganz gut getimt: 101 Jahre nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie wurden die winzigen Wellen der Raumzeit nachgewiesen.

SILBER: „Pokémon Go“. So gefällt uns die Augmented Reality: endlich ein Spiel, das zur Sonne, ins Freie lockt.

BRONZE: Proxima Centauri b. Ein Exoplanet, der der Erde ähnelt, vielleicht gar Wasser hat, und das nur 4,2 Lichtjahre entfernt: traumhaft!

SCHROTT: Echokammern. Wo Verschwörungstheorien hallen, Gerüchte wabern und jeder genau weiß, was gut und wer böse ist, dort hält uns nichts.

URGESTEIN: Die Welt. Aus ihr wollen wir nicht fallen. Sie und Gott waren heuer Thema beim Philosophicum Lech, wo man in kühler Luft einen Hauch religiöser Restwärme spürte.

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