Hören, was Anton Bruckner wirklich wollte?

(c) Clemens Fabry
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Urfassungen: Bevor Daniel Barenboim im Musikverein alle neun Symphonien in den gewohnten Letztversionen dirigiert, brachte Franz Welser-Möst mit seinen Clevelandern eine originale Achte heraus: umdenken tut not.

Kommende Spielzeit wird Daniel Barenboim im Wiener Musikverein innerhalb von eineinhalb Wochen die neun Symphonien Anton Bruckners dirigieren – in den gewohnten Letztfassungen der Partituren. Es sind Konzerte am Scheideweg, denn in der Bruckner-Rezeption vollzieht sich gerade ein bedeutender Wandel.

Der Zugang zu Bruckners Musik hat sich schon einmal dramatisch verändert: Um die Mitte des 20. Jahrhunderts mit Herausgabe neuer, von fremden Zusätzen bereinigter Druckausgaben setzte ein Umdenken ein. Man verwarf die am Richard-Wagner'schen Klangbild orientierten Spielfassungen, die Freunde des Komponisten – oft unter dessen Aufsicht – herausgebracht haben. Kürzungen, vor allem aber harmonische Korrekturen und heftige Eingriffe in die Orchestrierung statteten manche Symphonie-Finalsätze mit Effekten aus, die man sonst vielleicht aus dem „Walkürenritt“ kennt.

Mit Leopold Nowaks in Wien edierten Neuausgaben rückte man dem Willen des Komponisten näher, zumindest, was seine Klang- und Formvorstellungen betrifft. Doch kaum ein Dirigent wagte sich über die seit damals auch zugänglichen Partituren der Erstfassungen der Werke. Einzig die Siebente erblickte ja in jener Version das Konzertleben, in der der Komponist sie zu Papier brachte.

Keiner hörte die Wahrheit

Angestachelt vom Erfolg gerade dieses Werks, übersandte der Komponist die Partitur seiner Achten dem Dirigenten Hermann Levi – und bekam sie postwendend zurück. Zu lang, zu verworren, zu kompliziert. Dem niederschmetternden Urteil folgte eine lange Umarbeitungsphase, deren Ergebnis die Zweitfassung der Achten ist. Sie besiegelte zwar den endgültigen Durchbruch Bruckners, aber auch die Gewohnheit, die Urfassungen konsequent zur Seite zu legen. Wie die Achte wurden auch die Symphonien 2, 3 und 4 in gereinigten Zweit- oder gar Drittfassungen zu Erfolgen.

Im Falle der Dritten ist dabei gut ein Viertel der Musik dem Rotstift zum Opfer gefallen und viele beziehungsreiche Details blieben weg. Dass Bruckner im Adagio dieser d-Moll-Symphonie seiner Mutter gedenkt und ihr mit dem Zitat des Hochzeitszuges aus Wagners „Lohengrin“ ein klingendes Geleit ins Paradies komponierte, würde die Welt nur erfahren, wenn endlich die ursprüngliche Gestalt der Symphonie Einzug in die Konzertsäle hielte.

Wie überhaupt die weltlich-sinnliche, die allzu menschliche Komponente der Musik in den gängigen Letztfassungen wegrationalisiert erscheint. Eben erschien ein DVD-Mitschnitt der Achten mit dem Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst, erstmals in Bild und Ton ist damit eine exzellente Aufführung der Urfassung greifbar.

Der liebe Gott und die irdische Liebe

Die Differenzen zum gewohnten Klangbild sind eminent: ein strahlender C-Dur-Schluss des sonst mit der unbarmherzig ablaufenden „Totenuhr“ verdämmernden ersten Satzes sticht hervor. Auch ein anderes Trio im Scherzo-Satz. Das erinnert an die Umarbeitung der Vierten, die als „Romantische“ mit einem pittoresk-munteren „Jagd-Scherzo“ populär wurde, an dessen Stelle ursprünglich ein wild-verzerrtes Stück stand, das bestenfalls eine „Wilde Jagd“ darstellt; ein Halali auf das berühmte Horn-Thema, mit dem die Symphonie anhebt und schließt. Bruckner bricht diesen wichtigen Zwischenschritt des „leichteren“ Hörgenusses wegen einfach heraus . . .

Nicht ganz entfernt, aber kräftig reduziert hat er auch die Beckenschläge am Kulminationspunkt der Achten – gegen Ende des gewaltigen Adagio-Satzes. Dort münden die (in der Erstfassung noch viel intensiveren) Steigerungswellen in eine Entladung, die in zweimal drei Einsätzen des Beckens gipfeln. Die Assoziationen, die sich hier einstellen können, sind keineswegs nur metaphysischer Natur. Wer Bruckner so, also ungeschminkt hört, ahnt, warum das Scherzo der Neunten – wiewohl sie „dem lieben Gott“ gewidmet ist – ein Satyrspiel auf den unablässig festgehaltenen „Tristan“-Akkord ist; Inbegriff der Vereinigung irdischer Lust und der Sehnsucht nach Transzendenz.

8. Symphonie Urfassung, Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst: DVD bei Arthaus/Naxos. Von den Symphonien 3 und 4 sind CD-Aufnahmen der Erstfassungen unter Simone Young greifbar (Oehms Classic)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2011)

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