Wiener Festwochen: Kreischende Banalität des Bösen in Auschwitz

Passagierin
Passagierin(c) Oper Frankfurt / Barbara Aumüller
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Die Oper Frankfurt gastierte mit Mieczysław Weinbergs „Passagierin“ im Theater an der Wien. Anselm Weber zeigt das Stück, das Dmitri Schostakowitsch begeisterte, in einer kühl abstrahierenden Inszenierung.

War Auschwitz „die Hölle“? In Imre Kertész' „Roman eines Schicksallosen“ wird der Erzähler, ein junger KZ-Überlebender wie einst Kertész selbst, nach seiner Rückkehr aufgefordert, von der „Hölle der Lager“ zu berichten. Aber seine Antwort bleibt karg: Er könne sich „jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht“. – Soll heißen: Alle Worte, die für das Unbeschreibliche gesucht werden, laufen Gefahr, sich in Mystifikation oder Verharmlosung zu verlieren. „Jedes Sprechen über die Shoah“, schreibt Historiker Daniel Baranowski, „ist, streng genommen, kein Sprechen über die Shoah, weil es immer schon Beweis ist für ein Überleben.“

Überleben konnte Mieczysław Weinberg: 1919 in Warschau geboren, floh der Komponist beim Überfall der Nazis auf Polen zu Fuß nach Weißrussland. Als die Wehrmacht gegen Russland zog, schlug er sich mit der Eisenbahn 3000 Kilometer weiter nach Usbekistan durch, wo er Korrepetitor wurde. Es gelang ihm, Dmitri Schostakowitsch auf sich aufmerksam zu machen, gewann in ihm einen Freund und übersiedelte 1943 nach Moskau. Vor dem vielfach auch antisemitisch motivierten stalinistischen Terror gab es jedoch kein Entkommen: 1953 wurde Weinberg verhaftet, gefoltert – und kam vermutlich nur durch Stalins plötzlichen Tod frei. In die Opferrolle wollte er sich dennoch nie drängen lassen. Bei seinem Tod 1996 hinterließ er ein umfangreiches Schaffen, das in den vergangenen Jahren neu oder erstmals ins Rampenlicht rückte.

Musik der Hoffnung auf Freiheit

Überlebt hat auch die polnische Autorin Zofia Posmysz: Mit 18 Jahren in Krakau von der Gestapo wegen Verteilung von Flugblättern verhaftet, in Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück inhaftiert, verarbeitete sie ihre KZ-Erlebnisse nach der Befreiung in einem Hörspiel, das sie zum Roman „Die Passagierin“ (1962) weiterentwickelte. Dieses Buch wählte Weinberg als Grundlage für seine Oper (Libretto: Alexander Medwedew). Schostakowitsch war begeistert – doch die Apparatschiks verboten das Werk vor der geplanten Premiere 1968. Erst 2006 kam es in Moskau zur konzertanten, 2010 bei den Bregenzer Festspielen zur szenischen Uraufführung in der Regie von David Pountney. 2015 brachte Frankfurt das Werk in einer Inszenierung Anselm Webers heraus; diese Produktion holte Markus Hinterhäuser ins Theater an der Wien – neben Beethovens „Fidelio“ das zweite Musiktheaterwerk bei den diesjährigen Festwochen, das von unmenschlicher Unterdrückung und der Hoffnung auf Freiheit handelt.

Bezeichnend, dass auch in der „Passagierin“ nicht etwa ein Überlebender als Erstes von der „Hölle Auschwitz“ spricht, sondern ein einst gut geöltes Rädchen der Todesmaschinerie, Aufseherin Lisa. In einem dramaturgischen Kniff fühlt sich hier einmal nicht ein Opfer bei der unvermuteten Begegnung mit einem einstigen Peiniger in den Strudel der Vergangenheit hineingezogen, sondern meldet sich umgekehrt bei einer Täterin das Gewissen, als sie auf einer Schiffsreise Marta erblickt, eine jener KZ-Insassinnen, die sie einst unter ihrem Knüppel hatte. Jetzt Gattin eines Diplomaten auf der Überfahrt nach Brasilien, hat Lisa ihre Vergangenheit längst als „Pflichtbewusstsein“ rationalisiert – und schafft es sogar in einem dreisten Selbstschutzmanöver, sich als Opfer anzusehen: als Opfer ungerechten Hasses ihrer Häftlinge, die sie doch mit kleinen Hilfestellungen zwischen allen „normalen“ Schikanen hatte nötigen wollen, sie zu mögen . . .

Die wahre Hölle bleibt unvorstellbar

Tanja Ariane Baumgartner gelingt es, gerade die Unglaubwürdigkeit und Abgründe dieser Hauptfigur zu vermitteln. Sara Jakubiak ist als unbeugsame Marta ihr stimmlich markanter Widerpart: In ihr gegenwärtiges Selbst dürfen wir kaum blicken, dafür lernen wir sie in ausgiebigen Rückblenden im Lager kennen – inmitten vieler anderer Frauen, die in rührenden, ausführlichen Einzelszenen des großen Ensembles in drei langen Stunden ein letztlich wohl zu solidarisches Leben im KZ suggerieren.

Die wahre Hölle bleibt unvorstellbar, daran lässt auch Webers abstrahierte Regie keinen Zweifel. Katja Haß konfrontiert auf der Drehbühne das äußere kühle Weiß des Schiffes mit dessen hohlem Bauch, der in der Schlüsselszene im Nu vom Ballsaal ins Lager umschlägt.

Christoph Gedschold am Pult des Frankfurter Opernorchesters schlüsselt Weinbergs oft karge, mit verschiedenen Stilen und Zitaten arbeitende Musik sorgfältig auf. Ausgedünnte Linien ordnen sich den Singstimmen unter, das Dasein der Unterdrückten zwischen ausweglosem Elend und erträumten Hoffnungsschimmern wird in liebevoll drapierte, transparente Hüllen gekleidet. Die Schergen hingegen umgibt oft Lärm: Schlagzeug- und Blechattacken, die kreischende Banalität des Lieblingswalzers des Kommandanten. Brian Mulligan, dessen Bariton in den besten Momenten an den jungen Bryn Terfel erinnert, setzt ihm als Tadeusz todesmutig Bach entgegen . . .

So bleibt auch die „Passagierin“ letztlich vor allem Beweis für ein Überleben – und natürlich die Notwendigkeit des Erinnerns.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2016)

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