Wiener Festwochen: Rassismus hinter der eigenen Haustür

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Kornél Mundruczó brachte im Museumsquartier sein Stück "Scheinleben" zur Uraufführung.

Sie ist müde. Und sie wirkt verwirrt. Ihr Haar ist schwarz, aber man kann den schlohweißen Ansatz erkennen, sie sitzt an einem Küchentischlein in einer heruntergekommenen Wohnung, in der sie vielleicht nicht mehr lang bleiben darf: Ihr gegenüber hat nämlich der Mitarbeiter eines Inkassobüros Platz genommen, er soll die Delogierung vorbereiten und lässt zu Dokumentationszwecken eine kleine Kamera mitlaufen: Ihr Gesicht wird in Großaufnahme auf die Wand projiziert.

Was man da alles sieht, in diesem Gesicht von Lili Monori: das Schlaue und das Verwirrte, das Kämpferische und das Resignierte, den Spitzbuben und die alte Frau. Sie gibt jedenfalls nicht so schnell auf. Zuerst zeigt sie, dass sie sehr wohl weiß, dass sie auch als Schuldnerin Rechte hat. Und dann beginnt sie zu erzählen: Davon, wie sie floh vor dem Großvater. Wie sie sich hochschwanger im Büro des Wohnungsamtes anpinkelte und so tat, als sei die Fruchtblase geplatzt. Davon, wie ihr Sohn groß wurde in diesen vier Wänden, ihr neugieriger, ach, so kluger Sohn, der kein Roma sein will und sich das Haar blond färbt.

Es ist eine herzzerreißende Geschichte, herzzerreißend erzählt, sie dominiert den ersten Teil des Abends, der bei den Festwochen die Uraufführung erlebte und der uns von Wohnungsnot in Ungarn berichtet, von Vierteln, die geschliffen werden, und Rettungswagen, die nicht kommen, weil die Roma sich eh dauernd prügeln, da kann man doch nicht auf jeden Notruf reagieren, sonst geht das ungarische Volk noch unter.

Der zweite Teil beginnt nach einem spektakulären Zwischenspiel. Das Bühnenbild beginnt sich nämlich zu drehen, bald steht die ganze Wohnung auf dem Kopf, der Kühlschrank, die Kästen, die Regale, sie alle spucken nach und nach ihren Inhalt aus, als müsste sich die Wohnung auskotzen.

Die alte Frau ist tot.

Nun nimmt eine junge ihren Platz ein, und man könnte hoffen, dass alles besser wird. Doch das wird es nicht. Veronika (Annamária Láng) ist Alleinerzieherin, ihren Buben schleift sie irgendwie durchs Leben mit, ständig abgelenkt, ständig mit den Gedanken woanders, bei einem Geliebten, der sie per SMS anschmachtet. Leise, grauenhafte Szenen: Die Mutter zieht sich um, sie wird ausgehen, ihn treffen. Ob es derselbe ist, der ihr die Hämatome zugefügt hat?

Plötzlich grüßt der Poltergeist

Es sind zwei Geschichten über Menschen, die in ihrem Leben nicht ganz zu Hause zu sein scheinen, man hätte gern mehr gesehen, ganz rund ist der Abend nicht geworden. Vielleicht hat Mundruczó deshalb am Schluss noch versucht, das Stück auf irgendeine Art und Weise zu verankern. Einerseits in der Metaphysik: Als die Mutter nämlich die Wohnung verlässt, wird es plötzlich poltergeistig, eine Schublade geht auf, der Bub findet eine Spielzeuglok, sie gehörte dem Knaben, der vor ihm dort wohnte, dem Roma, der kein Roma sein wollte. Andererseits in der Realität: Das Stück endet mit einem Insert, wir erfahren von einem Überfall in einem Bus, ein 15-jähriger Roma wurde überfallen und fast erstochen. Schade, man hätte das gar nicht gebraucht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2016)

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