Bunte „Orchidee“ in einer gefährlichen Welt

Pippo Delbono
Pippo Delbono (c) imago/Independent Photo Agency (imago stock&people)
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Wiener Festwochen. Zwei ziemlich intensive Stunden mit Pippo Delbono und seinem außerordentlichen Ensemble: Der italienische Regisseur versucht, mit Kunst die Leere zu füllen, die der Tod seiner Mutter verursachte. Er ist noch unterwegs.

Pippo Delbono macht fast alles selbst. Der 1959 in Ligurien geborene Regisseur hat bei seiner seit 2013 erfolgreich in aller Welt aufgeführten Produktion „Orchidee“ nicht nur für Konzept, Inszenierung, Bilder und Filme gesorgt, er steht nicht nur häufig auf der Bühne und tanzt ausgelassen, sondern kümmert sich auch um Nebensächliches, wie etwa zu Beginn der Premiere bei den Wiener Festwochen am Donnerstag im Theater Akzent: Seine sanfte und doch eindringliche Stimme ertönt aus dem Off, gibt Anweisungen, die sonst meist von einem Sponsor zu hören sind: Man möge jetzt bitte die Mobiltelefone ausschalten. In Übertiteln kann man lesen, was der Regisseur auf Italienisch sagt. Aus dieser kleinen Rede macht er, während die Bühne noch leer ist, ein kleines Drama, erzählt, wie es zu Beginn von Aufführungen in Italien zugeht, lässt ahnen, dass er mit den feinen Abonnenten der Klasse A Probleme hat. Auch später folgt milde Kritik an verstaubt konventionellem Schauspiel.

Zweie nackte Dicke umarmen sich

Was aber bedeutet Theater für dieses Gastspiel aus Modena? Noch immer ist niemand aufgetreten, während der Regisseur über neue Technologien redet, die seine verstorbene Mama nie verstanden habe, über seine Fotoleidenschaft. Und dann geht es wirklich los. Delbono zitiert in den nächsten zwei Stunden einiges an Weltliteratur, eingangs etwa aus „On the Road“, dem Roman des amerikanischen Beat-Dichters Jack Kerouac. Nach und nach tritt das Ensemble auf – zehn Darsteller inklusive des Theatermachers im roten Leibchen und mit skurrilem Hut, eine bunte Truppe, die vor allem eines auszeichnet: Spielleidenschaft, ob nun ein junger Mann mit Trisomie eine Opernarie imitiert oder ein alter im Rollstuhl dem Geschehen interessiert folgt. Er war Jahrzehnte in einer Nervenheilanstalt. Schicksale werden gezeigt, aus anonymen Großstädten mit ihren Hochhäusern, aus Afrika mit seiner Armut.

Diesen Geschichten und dem Charme des Erzählers mit seiner liebenswürdigen Hinterfotzigkeit kann man sich kaum entziehen – ein netter Abend, mit Tanz, Musik, Versen, Filmen und vielen Bildern, oberflächlich betrachtet etwas beliebig, aber mit Tiefgang. Bei Passagen aus „Romeo und Julia“ oder „Hamlet“ steigert sich Delbono zu ungeheurer Intensität. Das Pathos stört nicht. Und auch Nacktszenen sind nicht auf Provokation aus. Etwa diese: Zwei Dicke entkleiden sich, gehen aufeinander zu, umarmen sich. Das wirkt ganz natürlich.

Was will uns „Orchidee“ erzählen? Es ist ein Fest der Körperlichkeit, der Lust und der Melancholie über Vergänglichkeit. Die Welt mag schlecht sein, aber wir haben nur die eine. Und Mama ist tot, sie war eine wunderbare Lehrerin, streng katholisch, hatte ihre Probleme mit dem künstlerischen, homosexuellen Sohn, der an HIV leidet – und er mit ihr. Er vergleicht sie mit einem Freund von den Roten Brigaden. Zwei von ihrer Mission völlig überzeugte Idealisten. Dazwischen der sensible Pippo. Er hat versucht, die Leere nach dem Verlust der Mutter mit „Orchidee“ zu füllen. Diese Blume ist ein Symbol für Schönheit und gefährliche Doppeldeutigkeit. Ein Film zeigt Insekten, die sich als Orchideen tarnen, Fliegen anlocken, sie fangen und fressen. Eine grausame Welt.

Die letzte Stunde der geliebten Mutter

Am Ende dominiert Versöhnung: Delbono hat die letzte Stunde seiner Mutter gefilmt, er streichelt ihre Hände, sie nimmt tröstend Abschied. Das könnte geschmacklos sein, erzeugt hier jedoch Intimität ohne Kitsch oder Skandal. Leicht enttäuscht schien der Theatermacher zu sein, als sein Ensemble das Publikum zum Tanzen animierte, sich dafür auffordernd im Parkett bewegte. Die Zuseher ließen sich nicht dazu verleiten mitzumachen. Man habe ihn gewarnt, sagt der Regisseur, das könne in Wien schwierig werden. Ja, in Rio sei das anders gewesen. Beim Applaus fiel allerdings auch in Wien bald die Zurückhaltung. Der war lang und begeistert, vereinzelt gab es sogar Standing Ovation.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)

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