"Lipsynch": Heimkehr ins sentimentale Theater

Lipsynch Heimkehr sentimentale Theater
Lipsynch Heimkehr sentimentale Theater(c) APA (HANS KLAUS TECHT)
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Robert Lepage zeigt „Lipsynch“, eine medial bunt gemischte Performance über Liebe, Mädchenhandel, Einsamkeit, die Stimme und die Sprache: ziemlich gut.

Neun Stunden können durchaus kurzweilig sein. Im Wiener Museumsquartier ist seit Mittwoch die jüngste Kreation des Frankokanadiers Robert Lepage zu erleben – der die Festwochen 2009 mit der fulminanten Satire „The Andersen Project“ eröffnet hat. Mit „Lipsynch“, knapp gesagt eine Geschichte über Sprache, ist Lepage nun wieder zu seiner Art des epischen Theaters zurückgekehrt. Mit den zornigen Attacken der 68er gegen Politik und den Zustand unserer Welt hat der 52-jährige Kunst-Multi aus Übersee nichts am Hut. Seine politischen Botschaften sind diskret und hübsch verpackt. Von Ironie hält er wenig, umso mehr von großen Gefühlen. Ob sich bei „Lipsynch“ eine Katharsis wie im griechischen Theater einstellt, ist zweifelhaft. Die Katastrophen plätschern hier wie Wellen hinein ins Hirn – und wieder raus. Das gefällt dem Publikum.

„Lipsynch“ ist eine Kooperation von Wissenschaft und Kunst. Die Idee ist anscheinend, Sprache als Essenz der Identität vorzuführen. In einigen Szenen sieht man eine Sängerin, die nach der Operation eines Gehirntumors zwar Töne, aber keine Worte hervorbringen kann. Ferner wird auf die These verwiesen, dass Michelangelo bei seiner Darstellung des Schöpfungsaktes in der Sixtinischen Kapelle in Rom um Gott herum das menschliche Gehirn abgebildet hat. Unterstützt wurde Lepage bei seiner Arbeit von Psychologen. Gleichviel, Medizin wird in TV-Serien wie „Grey's Anatomy“ überzeugender abgebildet – ohne philosophische Garnitur. Die heutzutage modische Übung, Wissenschaft und Theater zu kombinieren, funktioniert nur selten, auch hier nicht.

Das Epos selbst ist aber über weite Strecken sehr schön gelungen, nicht zuletzt, weil Lepage und sein riesiges Team – es gibt allein elf Textautoren – auf der Bühne viel strapazierte Techniken wie Video auf originellere Weise benutzen als andere. Überhaupt scheint Lepage weniger ein Erfinder als ein exzellenter Compositeur bestehender Medien zu sein. Die Zusammenstellung von Szenen, wie ein Film entsteht und wie er am Ende aussieht, ist höchst witzig und genial. Ebenso ein Begräbnis auf der kanarischen Insel Teneriffa, bei dem angelsächsische Stand-up-Comedy, südliche Burleske und spanische Melodramatik hinreißend kombiniert werden. Was ist denn nun die Geschichte von dem Ganzen? Auf einem Flug erlebt eine berühmte Sängerin, wie eine junge Frau aus Nicaragua stirbt, ihr schreiendes Baby im Arm. Bis zum Finale des Dramas bleibt das Rätsel um die Tote ungelöst. Lepage ist auch ein versierter Erzähler. Er reiht Kurzgeschichte an Kurzgeschichte, schließlich erwächst daraus ein Roman.

Piesbergen, Blankenship, tolles Ensemble

In diesem treten auf und ab: die Sängerin, die das Baby adoptiert, der heranwachsende junge Mann, der wissen will, woher er kommt; ein Neurologe, der von einer Sinnkrise in die andere taumelt, u. a. weil er erfährt, dass die Erkundung des Gehirnfleisches wenig über das Wehen des Geistes und der Seele aussagt. Eine Schizophrene findet einen brüchigen Frieden in der Lyrik, ein Polizist wird von seiner Gattin verlassen. Zwei Geschwister enthüllen ihre grauenhafte Kindheit mit Missbrauch und Gewalt – und eine lesbische Journalistin erforscht mit Leidenschaft die Zwangsprostitution. Am Schluss hat man gestaunt, gegessen, getrunken, geweint – und die Welt gesehen, wie wir sie kennen. Lepage ist auch besonders in der Führung der Schauspieler. Das Natürliche ist bei diesen Akteuren nicht undeutlich, sondern glasklar: Es freut ganz speziell das Wiedersehen mit Rebecca Blankenship, die eine wunderbar warmherzige Ausstrahlung hat und natürlich eine herrlich melancholische Stimme – ferner mit Hans Piesbergen, früher oft in Wien zu erleben. Aber auch alle anderen sind 100-prozentig authentisch und überzeugend – auch wenn die Grenze zwischen dem Emotionalen und dem Sentimentalen an diesem langen Tag des Öfteren überschritten wird.

AUF EINEN BLICK

Robert Lepage zeigte in Wien seine Performances „The Dragon's Trilogy“ und „Andersen Project. Die deutsche Publizistin Renate Klett hat über Lepage ein Buch geschrieben (Alexander-Verlag), das sie Samstag (15.), 11h, im Looshaus präsentiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2010)

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