Ulrich Seidl: „Leben in verstellter Wirklichkeit“

"Paradies: Glaube"(c) Ulrich Seidl
  • Drucken

Der österreichische Regisseur präsentiert mit „Paradies: Glaube“ den zweiten Teil seiner großen Trilogie im Wettbewerb. Es ist die Geschichte eines religionsübergreifenden Ehekriegs.

Am Anfang geißelt sich die Frau vor dem Kruzifix. Am Ende geißelt sie das Kruzifix. Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“, am Freitag im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig vorgestellt, ist die Geschichte einer enttäuschten Liebe – und in vieler Hinsicht eine Quintessenz des Schaffens des herausragenden österreichischen Autorenfilmers. Seine wiederkehrenden Themen wie Einsamkeit und Sehnsucht, Körperlichkeit und Religion verpackt dieser zweite Teil einer großen Trilogie in ein intimes, tragikomisches, schließlich schonungslos verzweifeltes Kammerspiel, während die Exkursionen in die Außenwelt mehrfach zu Protagonisten früherer Seidl-Werke führen. Suchte die Hauptfigur des heuer in Cannes vorgestellten Seidl-Films „Paradies: Liebe“ ihr Glück als Sextouristin in Kenia, so glaubt es diesmal die Heldin Anna Maria anfangs schon gefunden zu haben: im Glauben.

Den Urlaub mit Missionieren verbringen

Maria Hofstätter, unvergessen als Autostopperin in Seidls „Hundstage“, gibt als Anna Maria wieder eine Darstellung an der Grenze zur Selbstentäußerung: eine Röntgenassistentin, die ihren Urlaub damit verbringt, missionieren zu gehen. Daheim rutscht sie betend mit Bußgürtel auf den Knien: ein Ritual, für das sie vorher den Wecker stellt. Auf der Heimorgel intoniert Anna Maria inbrünstig religiöse Lieder, und wenn die Gebetsgruppe bei ihr zusammenkommt, wird dem Herrgott feierlich versprochen, Österreich wieder katholisch zu machen: „Wir sind die Sturmtruppen der Kirche.“

Dazwischen zieht Anna Maria von Tür zu Tür, im Arm die Wandermuttergottes („verwendet mit Zustimmung der katholischen Kirche“, wie das Presseheft vermerkt), die Glück und Heilung bringen soll. Mit der Hingabe einer Auserwählten ignoriert Anna Maria alle Absurditäten: „Da können Sie auch gleich ein wenig Deutsch lernen“, sagt sie, als sie ein frommes Heftchen bei einer verständnislos lächelnden Immigrantenfamilie hinterlässt. Etwas irritierter ist sie bei der Missionierung von René Rupnik, bekannt aus Seidls TV-Film „Der Busenfreund“, wenn das gemeinsame Vaterunser von dessen hingebungsvollen Exkursionen etwa über das „Lockfleisch“ der Frauen unterbrochen wird. Da ist Anna Marias Welt freilich schon erschüttert: Als sie eines Abends beim Heimkommen das Licht einschaltet, sitzt ein Muslim mit Rollstuhl im Wohnzimmer. Es ist ihr Gatte Nabil (eine Entdeckung: Debütant Nabil Saleh), nach jahrelanger Abwesenheit zurückgekehrt.

Anna Maria versteht die Heimkehr als göttliche Prüfung: Der Unfall, der Nabil lähmte, hat sie zum Glauben zurückgebracht. Ihr Gatte dagegen möchte, dass es wird wie früher, als er Herr im Haus war. Sein Flehen, ins Ehebett zurückzuwollen, bleibt unerhört. Anna Maria küsst nur das Jesusbild auf ihrem Nachttisch, und nimmt in einem Moment größter Verzweiflung sogar das Kruzifix von der Wand und unter die Tuchent, um es ausgiebig zu liebkosen.

Der Ehekrieg eskaliert unausweichlich: Liebe und Religion werden in pervertierter Form zur Waffe. Seidl inszeniert das Drama mit beklemmender Präzision und schwarzem Humor, im charakteristischen Wechselspiel von stilisiertem Tableau und dynamischer Handkamera. In einer Szene rächt sich Nabil, indem er die überall im Haus hängenden Kreuze mit dem Stock zu Boden schmettert. Beim Papstbild in der Küche gab es bei der Pressevorführung Szenenapplaus (überhaupt wurde der Film mit Beifall quittiert). Er glaube nicht, dass die Geschichte für den christlichen Glauben stehe, dass sie aber sehr wohl etwas über den Glauben sage, erzählte der Regisseur Freitagmittag gut gelaunt bei einer Pressekonferenz. Nur ein Journalist klagte über Verstörung: „Wenn der Film Sie verstört, wird das schon seinen Grund haben“, erwiderte Seidl, so gehe es nicht jedem.

Mit seiner formalen Klarheit und emotionalen Wucht ist Seidls Film in einer anderen Liga als die bisherige Lido-Konkurrenz: Wo etwa Mira Nairs Eröffnungsfilm „The Reluctant Fundamentalist“ sein Thema vom Kampf der Kulturen als billige Wohlfühl-Allegorie zum Terrorismus-Thema verpackt, indem seine Auflösung dem Zuschauer das Nachdenken erspart, respektiert Seidl die Intelligenz des Publikums.

„Mensch ist Mensch. Das ist alles.“

Im privaten Kleinkrieg von „Paradies: Glaube“ geht es nicht um Allgemeinplätze zur Auseinandersetzung der Religionen, deren zermürbende Auswirkung auf einzelne Leben wird aber mit einer Nacktheit erforscht, die so brutal wie zärtlich ist. „Wir leben in einer verstellten Wirklichkeit“, betonte Seidl bei der Pressekonferenz, er wolle hinter diese Fassaden vorstoßen, auch in der Art, wie er seine Figuren und ihre Körper zeige. Hauptdarsteller Nabil Saleh, überhaupt in bester Monologlaune, brachte es ganz auf den Punkt: „Mensch ist Mensch. Das ist alles.“

Beide heurigen Seidl-Filme wurden erstaunlich positiv aufgenommen, obwohl nicht die geringsten Aufweichungserscheinungen in Thema und Stil zu spüren sind: „Das Leben ist oft die Hölle“, sagte Seidl denn auch kategorisch, fügte jedoch hinzu: „Dass die Suche nach dem Paradies in die Hölle führt, ist aber eine andere Sache.“ Wie sich dieser dramatische Bogen der Bewegung von Anna Maria in dem des ersten „Paradies“-Teils spiegelt und ihn doch auch bricht, lässt etwas von der Komplexität des unter künstlerischer Mitarbeit von Koautorin Veronika Franz entstandenen Gesamtprojekts erahnen: Im Gegensatz zu den überdeteminierten Zusammenhängen im Gegenwartskino bereichern sich die voneinander unabhängig funktionierenden Filme durch ungezwungene Resonanzen und unerwartete Harmonien. Mehr dazu wird nach der Premiere des letzten Teils, „Paradies: Hoffnung“ zu sagen sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Mira Nair
Film

Filmfest Venedig: Start im Schatten von 9/11

Mira Nairs außer Konkurrenz gezeigter Eröffnungsfilm „The Reluctant Fundamentalist“ verbreitet peinliche Platitüden zur Terrorthematik rund um 9/11. Auch sonst war der Start der 69. Filmmostra schwach.
Filmfestspiele Venedig

Schwacher Start, starke Filme

Porträt des Tages

Venedig-Direktor im Italo-Kulturkampf

Alberto Barbera leitet wieder das Filmfest am Lido. Unter Druck von mehreren Seiten.
ITALY VENICE FILM FESTIVAL 2012
Film

69. Filmfestspiele Venedig feierlich eröffnet

Zum Auftakt gab es die Premiere des Polit-Dramas "The Reluctant Fundamentalist" von Mira Nair.
Filmfestspiele Venedig

Spitzenlooks am Lido


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.