Der Mann, der sein Testament auf Film hinterließ: Nagisa Ôshima ist gestorben

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Berühmt war der japanische Filmemacher Nagisa Ôshima für seinen Sexkunst-Skandalfilm "Reich der Sinne" aber sein ganzes Schaffen ist einzigartig. Er praktizierte Kino als permanente Revolution.

Gut ein Vierteljahrhundert lang wurde er weltweit als der wichtigste moderne Filmemacher Japans gefeiert: In den 1960ern sah der Westen in Nagisa Ôshima so etwas wie Nippons Jean-Luc Godard – die radikale Speerspitze einer Neuen Welle. Mit Godard teilte er ein Interesse für Sex, Rebellion, Politik, Jugendkultur und formale Experimente – aber wo dieser im wesentlichen immer weiter Godard-Filme machte, strebte Ôshima nicht weniger an als die permanente Revolution: Mit jedem Film erfand er sich, wenn nicht überhaupt das Kino, neu.

„Hört endgültig auf, Begriffe wie ,Neue Welle‘ zu verwenden! Bewertet jeden Film für sich!“, forderte Ôshima schon 1960. Bekannt wurde er dennoch als eine Zentralfigur des Kinoaufbruchs der folgenden Nouvelle-Vague-Dekade, berühmt (und berüchtigt) dann mit dem sogenannten Skandalfilm „Im Reich der Sinne“ (1976): Die Verfilmung eines in Japan berühmten Historienstoffs um Eros, Ekstase und Entmannung erregte als Kunstfilm mit Hardcore-Szenen Aufsehen und sorgte für Zensur („Pornografieverdacht“) – dass sie eine virtuose filmische Gestaltung des Todestriebs war, geriet darüber ein wenig ins Hintertreffen.

Perverse Erotik mit David Bowie

Dafür kam so die Chance auf internationale Koproduktionen wie „Merry Christmas Mr. Lawrence“ (1983), eine pervers-erotische Saga von Männer-Machtkämpfen im Kriegsgefangenenlager mit Popstar David Bowie und Takeshi Kitano (unvergesslich, wie dieser den titelgebenden Satz sagt). Oder „Max, mon amour“ (1986), eine Salonkomödie mit Charlotte Rampling und einem Schimpansen als Liebespaar. Deren Pokerface-Absurdität wurde wenig gewürdigt, es folgte eine lange Kinopause bis zur Ôshimas exquisiter Samuraigeschichte „Gohatto“ (1999), ebenfalls mit Kitano und homosexuellen Untertönen. Sie blieb sein Abschiedsmeisterwerk.

Inszeniert hatte es Ôshima nach einem ersten Schlaganfall bereits im Rollstuhl. Inzwischen war der durch unverblümte Aussagen als öffentliche Figur etablierte Regisseur mit seiner eigenen TV-Talkshow in der Heimat enorm populär, doch die letzte Dekade wurde es still um ihn. Am Dienstag ist er im Alter von 80 Jahren in einem Tokioter Krankenhaus an einer Lungenentzündung gestorben. Was er hinterlässt, ist ein Werk, das in seiner Vielgestalt und Einzigartigkeit seinesgleichen sucht: Das belegte Ôshimas große Wiederentdeckung vor vier Jahren, als eine Retrospektive auf Welttournee Furore machte – auch im Wiener Filmmuseum.

Als Radikaler hatte sich der Spross eines Schwertadelsgeschlechts schon etabliert, bevor er mit dem Kino in Kontakt kam: Als Rädelsführer der Studentenbewegung gegen den US-Japanischen Sicherheitsvertrag – eine Causa, die das Land spaltete – fand Ôshima nach Abschluss seines Jusstudiums in den 1950ern erst einmal keine Anstellung.

Eher zufällig landete er als Regieassistent beim Traditionsstudio Shôchiku, das in der Krise Erneuerung durch frisches Blut suchte. Ôshimas ironisch betiteltes Regiedebüt „Eine Stadt voller Liebe und Hoffnung“ (1959) erzählte zornig und wirklichkeitsnah von Aufstiegshoffnungen im Armenviertel, die von Klassenunterschieden zunichtegemacht werden: Als Antithese zum typischen Verlauf von Sozialmelodramen missfiel das den Studiobossen, war aber ein Kritikerfolg.

Und Ôshima stürzte sich in einen subversiven Schaffensrausch: In der nächsten Dekade machte er meist drei bis vier Filme pro Jahr. Allein 1960 servierte er in der gefeierten Jugendstudie „Nackte Jugend“ Sex and Crime als gallige Gesellschaftskritik, fotografierte die Sonne – das Nationalsymbol – in der Slum-Saga „Das Begräbnis der Sonne“ als würde sie radioaktiv leuchten und rechnete in „Nacht und Nebel über Japan“ mit der Selbstzerfleischung der Studentenbewegung ab. Letzteres inszenierte er als aggressives Aktualitätenkino mit langen Plansequenzen: nur 45 Einstellungen in 107 Minuten. Das stilistische Gegenteil ist „Der Besessene im hellen Tageslicht“ (1966), die Geschichte eines Serienmörders und Vergewaltigers, jede Szene in Schnittraserei gesprengt: 1508 Einstellungen in 99 Minuten!

Kritik an der Wirtschaftswunder-Illusion

Seine Rassismus-Satire „Die drei Trunkenbolde“ (1968) ließ Ôshima mittendrin einfach noch einmal von vorne beginnen – Kreislauf der Vorurteile –, mit „Ninjas Kampfkünste“ (1967) schuf er ein Pop-Schlüsselwerk für aufrührerische Zeiten, indem er einen populären Historiencomic buchstäblich abfilmte,mit wilden Schwenks und brachialer Tonspur. Seine Kritik an verknöcherter Tradition und der Wirtschaftswunder-Illusion des Nachkriegsjapans übertrug sich direkt in die Form: Ôshima bündelte die Innovationen der Zeit und spuckte sie in prismatischer Form wieder aus. Als großer Destabilisator des Kinos war er eine der Schlüsselfiguren im Film des 20. Jahrhunderts. Der englische Titel eines dokumentarisch anmutenden, aber allen Realismus sprengenden Hauptwerks über Revolte, Kino und Tod von 1970 kann auch als sein Credo gesehen werden: „The Man Who Left His Will on Film.“

Der geheime Ôshima

Als Spielfilmregisseur ist der 1932 in Kyôto geborene Nagisa Ôshima berühmt, nicht zuletzt für „Im Reich der Sinne“ (1976) und „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ (1983) mit David Bowie. Im Westen kaum bekannt sind allerdings seine Leistungen auf dem Gebiet der Filmtheorie, als populärer Moderator der langlebigen japanischen Talkshow „The School for Wives“ und als Dokumentarist, mit polemischen Filmen über Armut, Altlasten des Weltkriegs und zur Kinohistorie Japans: „Mein Hass auf das japanische Kino bezieht sich wirklich auf seine ganze Geschichte.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2013)

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