Assayas über 1968: „Die alte Welt hasste uns“

Assayas über 1968: „Die alte Welt hasste uns“
Assayas über 1968: „Die alte Welt hasste uns“Polyfilm
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„Jeder dachte, Mai 1968 war nur die Generalprobe und die Revolution stünde unmittelbar bevor“: Regisseur Olivier Assayas im Gespräch über seinen Film „Die wilde Zeit“ – und die Wurzeln des Umbruchs im Kino.

Olivier Assayas ist das Chamäleon unter Frankreichs großen Gegenwartsregisseuren: Unangestrengt pendelt er zwischen kleinen künstlerischen Produktionen und Genrefilmen, zuletzt lieferte er mit „Carlos“ ein episches Zeitbild anhand der Biografie des berüchtigten Terroristen. Nun versenkt er sich abermals in die Vergangenheit, mit autobiografischem Hintergrund: „Die wilde Zeit“ ist von seinem Briefbuch „A Post May Adolescence“ inspiriert, in dem er seine Jugend im postrevolutionären Klima nach 1968 schilderte. „Après mai“ heißt der Film denn auch im Original und erzählt von den Wegen, die verschiedene Jugendliche einschlagen, um die Utopie von der Gesellschaft weiterzuführen – ob in der Kunst, im bewaffneten Kampf oder durch Schaffen alternativer Lebenswelten.

Die Presse: Ihr Film „Après mai“ ist politisch viel reflektierter als die Buchvorlage.

Olivier Assayas: Ja, in den 1970ern teilte ich den situationistischen Ärger über die totalitäre Linke, das habe ich in meinem Buch noch einmal ausgesprochen. Das betraf übrigens auch den Umgang mit Kino: Einschlägige Filme wurden nicht infrage gestellt, sondern einfach geschluckt, von den Cinephilen wie den Militanten. Ich war schockiert: Ein Film soll doch Verbindungen zwischen Kino und Leben herstellen und kein Komplize von Lügen über die Wirklichkeit sein.


Wollten Sie nach der Großproduktion „Carlos“ wieder in kleinerem Maßstab arbeiten?

„Après mai“ war ursprünglich auch als große Saga angelegt: ein Dreistundenepos, das ich im Schreiben aber wieder kondensiert habe, bis nur noch die nötige Information übrig war, ohne Psychologie oder Kommentar. Ich war am Ende ganz überrascht, wie kurz das Skript war! Erst bei den Vorbereitungen begann der Film wieder zu wachsen: Es ging um die Texturen, die Beziehung zwischen Stadt und Natur, es galt die Energie und Poesie szenenweise einzufangen. Eigentlich ist es ein Film über einen jungen Mann, der anfangs Tinte auf ein Stück Papier schmeißt und letztlich versteht, dass Filme vom wirklichen Leben handeln können. Das hat aber nur Bedeutung innerhalb eines breiteren Zeitporträts.


Sie schlagen einen ganz ernsthaften Ton in Bezug auf diese jungen Menschen und ihre Ideale an – eine Opposition zur Ironie, mit der die Ära heute meist behandelt wird?

Ja, die 1970er und ihre Leidenschaften, die Ernsthaftigkeit des Engagements werden heute karikiert. Damals fühlten sich die Leute dafür verantwortlich, wie sie ihre Ideen lebten. Es genügte nicht zu sagen „Ich bin radikal“ oder „Ich glaube an das oder das“, es musste auch wirklich in die Praxis umgesetzt werden. Natürlich war das durch eine Weltsicht geprägt: Jeder dachte, der Mai 1968 war nur die Generalprobe und die Revolution stünde unmittelbar bevor. Die alte Welt war repressiv und hasste uns. Es gab diesen enormen Generationenkonflikt, weil sich die Struktur der Gesellschaft seit den 1950ern nicht geändert hatte: Vielleicht hatten die Auseinandersetzungen um den Algerien-Krieg die Entwicklung eingefroren. Für die Jugend war jedenfalls zu dieser Welt kein Bezug möglich, man musste sich also gar nicht bemühen, sich davon loszusagen. Ein sicherer Job, eine Karriere – das interessierte keinen, man war willens, Experimente zu wagen mit seinem Leben.

Und heute fehlt dieser Wille?

Ich denke, dass man sich heute darüber lustig macht, weil man Angst vor so einem tiefgreifenden Engagement hat. Eine agrikulturelle Kommune mit Ziegen – klar kann man darüber lachen, aber was sind die alternativen Optionen? Das war doch die Umsetzung von gewissen anarchistischen Idealen in Taten! Heute sind die Leute damit zufrieden, einfach zu behaupten, dass sie radikal sind. Ich nenne das Mehrwert-Radikalismus: ein Faktor wie Coolness oder Hipness, der nicht bewiesen werden muss.


Wie war damals die politische Situation in Frankreichs Kino? Den Pariser Unruhen im Mai 1968 gingen ja Demonstrationen gegen die Entlassung von Henri Langlois als Direktor der Cinémathèque française voraus.

Eine bedeutsame Entwicklung, die man noch einmal genauer analysieren müsste: Der Umbruch hatte irgendwie Wurzeln im Kino, da war es so, als hätte die Revolution schon zehn Jahre vorher stattgefunden. Im Film und in der Literatur mit dem Nouveau Roman wurde die Bewegung zur Moderne eingeleitet, erst dann schlug es sich gesellschaftlich nieder. Dabei muss man auch bedenken, dass das Mainstream-Kino in dieser Zeit politisch stark links orientiert war, mit Leuten wie Bertrand Tavernier, Yves Boisset oder Costa-Gavras. Auch viele Trotzkisten waren darunter, etwa Pierre-William Glenn und Alain Corneau. Es war auch eine Zeit der Verwirrung: Die „revolutionären“ Regisseure der Nouvelle Vague waren politisch ja recht verschieden eingestellt, aber im kommerziellen Kino regierten die Linken. Gar nicht links im klassischen Sinn: Die sozialistische Partei Frankreichs war damals unbedeutend und winzig, Kommunisten unter den Filmemachern wie in Italien gab es allenfalls als Randfiguren. Für meine Generation am wichtigsten waren damals aber eigentlich US-Independent-Filme: „The Strawberry Statement“, „Electra Glide in Blue“, „Medium Cool“, „Vanishing Point“, Bob Rafelson – die Post-Easy-Rider-Bewegung.


Sie verwenden Ausschnitte aus Bo Widerbergs Film „Joe Hill“ (1971) über den US-Arbeiterführer und Agitator-Märtyrer.

Da bin ich einfach Fan: Bo Widerberg ist ein vergessenes Genie. Lars von Trier hat zugegeben, dass „Dancer in the Dark“ auf seinen Erinnerungen an „Joe Hill“ basiert: die Züge, die Hobos, die Hinrichtung usw. Ich habe den Film als Teenager gesehen, er ist mir wirklich geblieben. Als ich vor ein paar Jahren Widerberg in größerem Maßstab wiederentdeckt habe, fühlte ich mich vollkommen bestätigt. Sein Film passt auch zur Geschichte der 1970er, die ich erzähle: Widerberg ist ein Regisseur, der wirklich versucht hat, dem Zeitenwandel gerecht zu werden. Seine Werke sind politisch, aber sie haben auch eine große Schönheit, eine sinnliche Qualität nahe am Impressionismus. Sie sind sehr großzügig und lyrisch und gar nicht dogmatisch wie viel linkes Kino damals. Ich mache selten Hommagen in meinen Filmen, aber das ist eine.

Zur Person

Olivier Assayas, 1955 in Paris geboren, der Vater war ebenfalls Regisseur, wurde 2011 in die Wettbewerbsjury von Cannes berufen. Seine Filme widmet er gern aktuellen Themen, in „Demonlover“ geht es um Comics, Sado-Maso, in „Clean“ (mit Nick Nolte) um Drogen. „Carlos“ (2010) handelt vom Terroristen gleichen Namens. [Polyfilm]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2013)

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