Rette uns, liebe Momo!

Rette liebe Momo
Rette liebe Momo(c) Kinowelt
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Nie hatten es die grauen Herren so leicht wie heute: Vor 40 Jahren erschien Michael Endes Kinderbuchklassiker "Momo" über die tödliche Wirkung des Zeitsparens.

Am Anfang waren ein Autor, dem nichts einfiel, und eine Taschenuhr ohne Zeiger. Der Autor war Michael Ende, der sich eine Story für einen Spielfilm überlegen sollte, und der Anblick der unbrauchbaren Uhr wirkte Wunder: „Plötzlich stellten sich die ersten Ideen ein.“ Ideen für eine Geschichte, die – nein, nicht zeitlos ist, das wäre ein unpassendes Attribut für einen Roman, der so um das Geheimnis der Zeit kreist. Zeitvoll, müsste man eher sagen, aber nicht nur voll von Zeit überhaupt, sondern auch voll von unserer.

Vor 40 Jahren, 1973, erschien die Geschichte von den grauen Herren, die den Menschen ihre Zeit stehlen, und dem Mädchen, das ihnen widersteht. Die aschgrauen Gestalten mit Zigarette und Aktentasche reden den Menschen ein, dass sie keine Zeit „verlieren“, sondern sie „sparen“ sollen, auf der Zeitsparkasse. Aber „Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.“

Heute herrschen die grauen Herren fast unumschränkt, nur ist kein rettendes Kind in Sicht, wie auch? Selbst Kindergartenkindern wird ja schon die „freie“ Zeit mit Förder- und Bespaßungsprogramm vertrieben. „Selbst ihre freien Stunden mussten in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie möglich war“, heißt es über die Menschen, die nur noch in möglichst kurzer Zeit möglichst viel erledigen wollen. „Am allerwenigsten konnten sie die Stille ertragen. Denn in der Stille überfiel sie Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah. Darum machten sie Lärm, wann immer die Stille drohte.“

Nur Momo ist resistent. Niemand weiß, woher sie kommt, wer ihre Eltern sind, wie alt sie ist. Eines Tages ist sie da, in den Ruinen eines kleinen Amphitheaters am Rande Roms (wo Michael Ende den Roman schrieb), mit schwarzen Locken, dunklen Augen und übergroßer Männerjacke. Momo kann zuhören wie niemand. Schüchterne werden dabei mutig, Unentschlossene entschlossen, Menschen haben plötzlich Gedanken, von denen sie nie etwas geahnt hätten. Im Lauf des Romans wird klar: Ihre magisch wirkenden Fähigkeiten haben etwas mit ihrer Beziehung zur Zeit zu tun.

Warum können die grauen Herren Momo als Einzige nicht unter ihre Gewalt bringen? Die Frage hat Ende angeblich sechs Jahre lang daran gehindert, das Buch fertigzustellen. Eines Tages hatte er die Antwort: „Zeit stehlen kann man nur dem, der Zeit spart, denn jemand, durch den die Zeit sozusagen hindurchfließt, der seine Zeit nicht festzuhalten versucht, der hat ja gar keine, die man ihm stehlen kann.“

Antikapitalismus und Mystik. „Momo“ gehört zu den seltenen Kinderbüchern, die auch für Erwachsene eine faszinierende Lektüre sind. Es lässt sich etwa als Kapitalismuskritik lesen; der Autor bekannte selbst, dass der Geschichte die Idee des „alternden Geldes“ zugrundeliege, dass nämlich jedes Geld mit der Zeit an Wert verlieren solle, was Banken und Zinswirtschaft obsolet machen würde. Außerdem steckt darin eine mystische Utopie mit Momo als Erlöserin: das Gestern-Land (an das die Ruinen des Amphitheaters erinnern) als verlorenes Paradies, das Heute-Land als die von Gott abgefallene Welt, das Morgen-Land als künftiges Reich Gottes auf Erden. Letzteres kann weder durch den Schöpfer (Meister Hora) noch durch die Menschen allein erreicht werden, sondern nur, indem beide Seiten zusammenarbeiten – mit Momo als Mittlerin.

Für die Illustrationen wünschte sich Michael Ende vergeblich den berühmten Kinderbuchautor Maurice Sendak. Schließlich bebilderte er das Buch selbst; allerdings war er kein begnadeter Maler wie sein Vater, der Surrealist Edgar Ende, der etwa die Wiener Schule des Phantastischen Realismus beeinflusste. Visuell viel mehr ins kollektive Gedächtnis gegraben hat sich die fabelhafte Verfilmung von 1986 mit Radost Bokel. Und dann sind da natürlich noch die Fantasiebilder der Leser: von den gespenstischen Gestalten, die ihre Nullen in die Luft qualmen und sich am Ende auflösen, von der „vollkommenen Puppe“ Bibie-Girl, die samt Accessoires in den Kofferraum des grauen Herrn zurückfliegt, nachdem er Momo vergeblich damit zu verführen versucht hat, von den Stundenblumen von Meister Hora oder von Beppo Straßenkehrer, der kein Achtsamkeitstraining braucht, um zu wissen, wie man etwa eine lange Straße kehren soll: „Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Dann macht es Freude; dann macht man seine Sache gut.“ Zu simpel? Heute erzählen Erwachsene, dass sie dieser Rat als Kinder tief beeindruckt und begleitet hat, bis heute.

Der Autor

1929. Geboren im bayerischen Garmisch als Sohn des surrealistischen Malers Edgar Ende.

1960. „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ wird sein erster großer Erfolg.

1970. Übersiedlung nach Rom, 1973 erscheint „Momo“, 1978 UA der Oper „Momo“ (Musik Mark Lothar).

1979. „Die unendliche Geschichte“erscheint, wird ein Welterfolg.

1995. Tod. In München ist heute ein Michael-Ende-Museum.

»Momo«-Bücher

Ab morgen, 19. August, sind sowohl eine Retro-Ausgabe (siehe Bild) als auch eine Neuausgabe von „Momo“ erhältlich (beide Thienemann Verlag). Letztere betont visuell „die freundliche Momo-Welt deutlicher“, so ein Illustrator, mit schlichten, kindlichen Formen und Klecksen (s. Bildchen oben). Ebenso wie Endes Bildchen sind auch die neuen in Schwarz-Weiß gehalten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2013)

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