Das Oscar-Spiel: Sklaven, Wölfe, Sensationen

Gravity
GravityCourtesy of Warner Bros. Picture
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Heute Nacht werden die 86. Academy Awards vergeben: Die künstlerische Bedeutung der Oscars mag schwinden, als Gesellschaftsspiel sind sie unantastbar. Die "Presse am Sonntag" spielt mit.

Die große Überraschung bei den Oscars 2014: Sie werden künstlerisch offenbar wieder ernster genommen, nach langen Jahren der nicht unverständlichen Häme für solche Sieger wie „Slumdog Millionaire“ oder „L.A. Crash“. Gewiss, als Gesellschaftsspiel und Hollywood-Eigenwerbung – wofür der Academy Award schließlich 1927 erfunden wurde – ist die Oscar-Gala unantastbar, trotz sinkender Quote und geringem Interesse der Jugend. (Kein Wunder: Nur 14 Prozent der 5800 Wahlberechtigten sind unter 50 Jahre.)

Theoretisch sind es tatsächlich die besten Oscars seit Langem, dank zweier wirklich herausragender Hollywood-Filme unter den Favoriten: Martin Scorseses Wirtschaftssatire „The Wolf of Wall Street“ sowie des Weltraum-Thrillers „Gravity“ (als kommerzieller Überflieger der Runde für viele Technikpreise avisiert). Praktisch wird in politisch korrekter Academy-Strategie der übliche Mix aus Prestige und Oscar-Formel triumphieren. Anlässlich der Gala heute Nacht: Wer gewinnen wird, wer gewinnen sollte, wer übergangen wurde.


Bester Film. Nominiert sind: „12 Years a Slave“, „Gravity“, „American Hustle“, „Captain Phillips“, „The Wolf of Wall Street“, „Nebraska“, „Dallas Buyers Club“, „Her“ und „Philomena“.

Wird gewinnen:
„12 Years a Slave“: Im angesagten Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Steve McQueens Sklavensaga und „Gravity“ wird die Academy wie öfter in den vergangenen Jahren den Hauptpreis lieber dem Prestigefilm statt dem technisch aufwendigen Blockbuster geben. Dazu kommt liberale Academy-Politik: Als Geschichtskino ist „12 Years a Slave“ ein „Schindlers Liste“ der Obama-Ära.

Sollte gewinnen:
„The Wolf of Wall Street“. Scorseses Turbokapitalismus-Epos überragt die Konkurrenz, sein Komödienzugang sorgte aber in den USA für Kontroversen – nicht ungefährlich genug.

Übergangen:
„Pain & Gain“. Michael Bays Satire auf das kriminell gewordene Erfolgsdenken des American Dream wäre das perfekte Doppelpack mit Scorseses „Wolf“ – aber ihre angemessen unkorrekte Dampfhammer-Art war wohl selbst für Nominierungen zu gefährlich.

Regisseur. Im Rennen sind: David O.Russell für „American Hustle“, Alfonso Cuarón für „Gravity“, Alexander Payne für „Nebraska“, Steve McQueen für „12 Years a Slave“ und Martin Scorsese für „The Wolf of Wall Street“.

Wird gewinnen:
Alfonso Cuarón. Der offensichtlich technisch sensationellen Leistung bei „Gravity“ wird die Academy kaum widerstehen können. Zudem in doppelter Hinsicht die Chance, im Favoritenduell salomonisch zu entscheiden: Cuarón wäre der erste Latino, der den Regie-Oscar gewinnt – sein Konkurrent Steve McQueen wird damit zwar nicht erster schwarzer Sieger in der Kategorie, aber dafür wird er es beim besten Film als Produzent von „12 Years a Slave“.

Sollte gewinnen:
Martin Scorsese. Cuaróns Sieg wäre prinzipiell zwar verdient, der 71-jährige Scorsese inszenierte den „Wolf“ aber mit einer Energie, die seine jüngeren Mitstreiter alt aussehen lässt. Waltet ausgleichende Gerechtigkeit? Altmeister Scorsese erhielt den überfälligen Regie-Oscar erst 2007 für seinen schwächsten, weil bravsten Spielfilm „The Departed“.


Hauptdarsteller. Nominiert wurden: Matthew McConaughey für „Dallas Buyers Club“, Chiwetel Ejiofor für „12 Years a Slave“, Leonardo DiCaprio für „The Wolf of Wall Street“, Bruce Dern für „Nebraska“ und Christian Bale für „American Hustle“.

Wird gewinnen:
Matthew McConaughey. Ein aufgelegter Oscar: Sichtliche körperliche Abmagerungsstrapazen und eine Rolle als Homophober, der bekehrt wird. McConaughey spielt das auch gut und mit viel Energie: Schön, wenn dieser lang Unterschätzte endlich einen Oscar kriegt. Aber seine Gastrolle in „Wolf of Wall Street“ war eigentlich noch besser.

Sollte gewinnen:
Bruce Dern. Der Charakterdarstellerveteran zeigt als einziger der Nominierten, was wirklich subtiles Schauspiel ist: Sein brillantes Understatement hat natürlich auch die geringsten Chancen. Falls doch ein Überspieler gewinnt: Verdient hätte es der entfesselte Leonardo DiCaprio als Wolf.

Übergangen:
Daniel Brühl. Der Deutsche zeigte sowohl als Niki Lauda in „Rush“ wie im sonst schwachen WikiLeaks-Film „The Fifth Estate“ Oscar-Kaliber, aber eben in Unterspieler-Manier. Ob der komischen Oscar-Kampagnen-Regeln wäre Brühl zudem trotz Hauptrollen jeweils nur als Nebendarsteller drangekommen.


Hauptdarstellerin. Die Kandidatinnen sind: Amy Adams für „American Hustle“, Cate Blanchett für „Blue Jasmine“, Sandra Bullock für „Gravity“, Judi Dench für „Philomena“ und Meryl Streep für „August: Osage County“.

Wird gewinnen:
Cate Blanchett. Als Hauptdarstellerin wurde Blanchett bisher übergangen (sie hat nur einen Nebenrollen-Oscar für „The Aviator“), dank ihrer viel gelobten Darstellung in Woody Allens Film ließe sich der Schnitzer ausmerzen – und ein Zeichen für künstlerische Unabhängigkeit senden: Die aktuelle Kindesmissbrauchskontroverse um Allen hat Blanchett weise ignoriert.

Sollte gewinnen:
Sandra Bullock. Bullocks Leistung war nicht nur physisch – sie ließ sich buchstäblich einspannen, um in das digitale Weltall von „Gravity“ eingebaut zu werden –, sondern auch ernsthaft bewegend. Mit so einer Rolle hat die Academy auch nicht gerechnet und Bullock schon 2010 einen Überraschungs-Oscar für „Blind Side“ zugeschanzt. Das rächt sich jetzt wohl.

Übergangen:
Greta Gerwig. Im Film „Frances Ha“ war Gerwig auf entwaffnend beiläufige Weise zauberhaft – und damit für die Oscars offenbar zu ungekünstelt.

Nebendarsteller. Nominiert: Barkhad Abdi für „Captain Philips“, Bradley Cooper für „American Hustle“, Michael Fassbender für „12 Years a Slave“, Jonah Hill für „Wolf of Wall Street“ und Jared Leto für „Dallas Buyers Club“.

Wird gewinnen:
Jared Leto. Der Sieg des „Dallas“-Duos gilt als abgemacht. Optisch – Abmagerung und Transvestit! – ist Letos Leistung eindrucksvoller, darstellerisch kann er mit McConaughey nicht mithalten: Er hat nur die Bauernopferrolle im Oscar-Formel-Film. Das lässt eine Lücke für Michael Fassbender, der in „12 Years a Slave“ eine andere Formel (sadistischer Sklaventreiber) souverän bedient.

Sollte gewinnen:
Jonah Hill. Der Komiker war im „Wolf“ ideal besetzt: Als Partner in Crime des Titelhelden setzt er Comedy-Glanzlichter, gibt seinen Exzessen aber auch die nötige Unheimlichkeit. Die humorlose Academy wird es sicher nicht würdigen: Sonst wäre auch McConaughey für den „Wolf“ nominiert und Dwayne Johnson für sein zwerchfellerschütternd verzögertes Timing in „Pain & Gain“, ganz zu schweigen von Arnold Schwarzenegger in „Escape Plan“...


Nebendarstellerin. Nominiert sind: Sally Hawkins für „Blue Jasmine“, Jennifer Lawrence für „American Hustle“, Lupita Nyong'o für „12 Years a Slave“, Julia Roberts für „August: Osage County“ und June Squibb für „Nebraska“.

Wird gewinnen:
Lupita Nyong'o. Als gequälte Sklavin gibt Newcomerin Nyong'o eine (gute) Darstellung, die Journalisten unweigerlich als „mutig“ bezeichnen (im Oscar-Vorfeld tun es viele über ihre Modewahl). In ihrer Rolle muss Nyong'o aber mehr reagieren als agieren – auch eine Kunst, aber keine, die allzu oft für Preise sorgt. Das ließe eine Chance für Hollywood-Liebling Jennifer Lawrence im überschätzten „American Hustle“: Da darf der charismatischste Jungstar der Traumfabrik aufdrehen. Dafür erhielt sie aber erst im Vorjahr den Hauptrollen-Oscar – für einen Film desselben Regisseurs.

Sollte gewinnen:
June Squibb. Wo Bruce Dern in „Nebraska“ mit völliger Zurückhaltung glänzt, kriegt die 84-jährige Mimin einige der Lacher. Doch sie lässt einen vergessen, dass man einer Schauspielerin zusieht: Sie fügt sich so perfekt unter die gefurchten Gesichter des Provinz-Ensembles von „Nebraska“, als wäre sie eine vor Ort entdeckte Laiendarstellerin.


Bester fremdsprachiger Film. Nominiert: „The Broken Circle“ (Belgien), „La grande bellezza“ (Italien), „Jagten“ (Dänemark), „Omar“ (Palästina) und „The Missing Picture“ (Kambodscha).

Wird gewinnen:
„La grande bellezza“. Paolo Sorrentinos barockes Rom-Porträt in Neo-Fellini-Manier hat trotz dünnen Inhalts schon einige Preise abgeräumt: Seine opulente visuelle Kraftmeierei sollte auch bei den Oscars wirken – falls nicht, hat der belgische Bluegrass-Außenseiter „The Broken Circle“ die besten Chancen.

Sollte gewinnen:
„The Missing Picture“. Rithy Panhs ungewöhnlicher, berührender Film über seine Erinnerungen an Pol Pots Regime spielt in einer anderen Liga als seine Mitbewerber. Als Dokumentation hat er kaum Chancen gegen die Spielfilm-Konkurrenz, aber schon die Nominierung ist eine Sensation: In jedem anderen Jahr wäre das ein klassischer „Übergangen“-Fall gewesen.

Oscar-Gala: Wann & Wo

Gala. Die 86. Academy Awards werden heute ab 17.30 Uhr Ortszeit im Dolby Theatre in Los Angeles vergeben.

Übertragung. Im deutschsprachigen TV bei ORF und Pro7 – zeitverschobener Beginn: Montagfrüh, 2.30h. Auf ORF eins läuft um 0.25h vorab die Dokumentation „And the Oscar goes to...“ zur Geschichte des Preises.

Live. Um 2 Uhr in der Nacht auf Montag schaltet man zum Red Carpet, um 2.30 Uhr geht es ins Gebäude zur Gala, die gut drei Stunden dauern soll. Den Live-Kommentar bei ORF eins liefert als Experte der Direktor des Österreichischen Filmmuseums, Alexander Horwath, mit der Moderatorin Nadja Bernhard.

Oscars im Kino. Wer die Gala im großen Kreis verfolgen will, kann sich auch in ein Kino setzen. In Wien zeigt das Gartenbau traditionell die Oscars live, mittlerweile ist auch das Burgkino eine Option. Beide Kinos zeigen Sonntag tagsüber viele der nominierten Filme.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.03.2014)

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