Glawogger-Nachruf: Dieser Abschied war für immer

Michael Glawogger
Michael Glawogger(C) Lunafilm
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Im Dezember brach Regisseur Michael Glawogger zu einer filmischen Reise um die Welt auf – ohne Thema, ohne Ziel, mit offenem Ausgang. In der Nacht auf Mittwoch ist er im Alter von 54 Jahren in Liberia der Malaria erlegen.

Der VW-Bus stand schon bereit, wohl bepackt für diese Reise, die ihn ein Jahr lang um die Welt führen sollte, da lud Michael Glawogger Freunde, Bekannte und Journalisten zu sich in seinen Garten im niederösterreichischen Pitten ein. Gebäck und Würstel wurden serviert, es war Dezember und kalt, zum Aufwärmen gab es heißen Tee, und Glawoggers Kameramann, Attila Boa, filmte: Dieser Garten, dieser Abschied, dieser Aufbruch sollte der Ausgangspunkt für seinen neuen Film werden.

Thema der Fahrt: keines. Ziel: unbekannt. Titel: noch im Werden. Auf den Reisen, die er bisher unternommen habe, erklärte er in einem sehr elaborierten Konzept für diesen Film, seien ihm immer wieder Dinge widerfahren, habe er Situationen erlebt und als besonders empfunden, die er nicht hatte filmen können. „Ich war ja gerade mit einem anderen Thema beschäftigt und hatte mich auf dieses zu konzentrieren.“ Er habe das als Behinderung erlebt. „Dieser Film soll ein Bild der Welt entstehen lassen, wie es nur gemacht werden kann, wenn man sich von nichts treiben lässt außer der eigenen Neugier und Intuition.“

Erste Etappe Afrika

Nur so viel war klar, die erste Etappe sollte Michael Glawogger gemeinsam mit Attila Boa und Manuel Siebert nach Afrika führen. Vor Afrika habe er „fast ein bissl Furcht“. Es sei ihm nicht nahe, aber gerade deshalb gelte es, dieses Terrain zu erobern. Seine Frau Andrea, stellvertretende Geschäftsführerin des Filmmuseums, sprach beim Abschied im Garten von einem „eigenartigen“ Gefühl. Aber es „gehört zu einer Ehe dazu, dass man dem Partner Träume ermöglicht“.

Und außerdem, sagte sie: „Face it, in unserem Alter geht ein Jahr so schnell vorbei, dass man nachher nicht mehr weiß, wo es geblieben ist.“

Michael Glawogger ist immer viel gereist. 1998 hatte ihn „Megacities“ nach Bombay, Mexico City, Moskau und New York geführt, wo er in einem Furor der Bilder das Tempo und die Farben dieser Städte einfing. 2005 reiste er für „Workingman's Death“ an Orte, wo Menschen unter unglaublichen Bedingungen schuften – in Indonesien drehte er in dampfendem Schwefel, in Pakistan filmte er, wie riesige Schiffe zerlegt wurden, er zeigte Menschen in Nigeria, China, der Ukraine im Kampf mit den Elementen, diesen Kampf würdigend, aber nicht heroisierend. 2011 schließlich besuchte er für seine Dokumentation „Whores' Glory“ den sterilen „Fish Tank“ in Bangkok, die chaotische „Stadt der Freude“ in Bangladesch, die todesnahe „Zona“ in Mexiko und erhielt für seinen gewaltigen Film über die Beziehungen von Mann und Frau im Allgemeinen und über käuflichen Sex im Besonderen den Spezialpreis der Jury im Venediger Zweitbewerb „Orizzonti“.

Von seiner letzten Reise wird Michael Glawogger, wie wir seit gestern Mittag wissen, nicht mehr lebend zurückkehren. Bei den Dreharbeiten in Liberia erlag er in der Nacht auf Mittwoch der Malaria. Am 22.April war noch ein Eintrag aus seinem Reisetagebuch erschienen, das der „Standard“ und die „Süddeutsche Zeitung“ alternierend veröffentlichten.

Glawogger wurde am 3. Dezember 1959 in Graz geboren. Er studierte am San Francisco Art Institute und an der Wiener Filmakademie, er war Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann, ein Universalist. International bekannt wurde er vor allem durch seine Dokumentationen, die er mit sozialem Engagement gedreht hat, mit großer Unvoreingenommenheit und Neugierde – und mit dem Willen, noch einmal hinzusehen, und noch einmal, bis sich zu erkennen gibt, was sich den ersten Blicken entzogen hat. Um dies bergen zu können, braucht es eine Aufgeschlossenheit für Widersprüche, die wenigen eigen ist – sie machte seine Dokumentationen so einzigartig.

Letzte Bilder und Texte aus Afrika

Neben den Dokumentationen drehte er ebenfalls höchst erfolgreich Spielfilme. „Slumming“ mit Paulus Manker lief 2006 bei der Berlinale, es ist ein traurig-komisches Stück über den Wohlstand und die Armut und die Armut ihm Wohlstand. „Nacktschnecken“ und die surreale Komödie „Contact High“ sollten Teil einer Trilogie über Sex und Drugs und Rock 'n' Roll sein, die nun unvollendet bleiben wird. In „Das Vaterspiel“ nach einem Roman von Josef Haslinger fährt der Held durch eine Winterlandschaft und räsoniert. Ebenfalls Thema: ein Kriegsverbrecher in einem Keller und ein Vatermord.

In den letzten Wochen und Monaten hat Glawogger in Marokko, Mauretanien, in Gambia und im Senegal gefilmt, und von all diesen Stationen zeugen Blog-Einträge, zum Teil privater, zum Teil beiläufiger, zum Teil poetischer Natur: Einer der schönsten wurde am 11. April veröffentlicht, er zeugt von der behutsamen Annäherung eines Europäers an eine ihm noch fremde Lebenswelt. Der Erzähler kommt an, plötzlich steht alles still. „Es war ein Moment, ein Moment in diesem Leben, in dem es gerade nichts anderes zu tun gab, als sich dem Schlaf hinzugeben. Alles Essen war gekocht, alle Cassava-Blätter gegessen, alle Fufus für den Abend hergerichtet und alle Hühner zerteilt.“ Der Besucher, der Reisende, lässt sich anstecken von dieser Schläfrigkeit, von dem Gefühl, alles sei erledigt. Und er „schaffte es noch, sich auf einen weißen Plastiksessel zu setzen, den irgendwer achtlos am Straßenrand hatte stehen lassen. Dann schlief auch er ein.“

Im Nachhinein liest es sich bitter. Der Erzähler dieser Geschichte wachte wieder auf.

SEINE FILME

Dokumentarfilme. Glawogger war Globetrotter. Das Ergebnis waren Dokumentationen wie „Megacities“ (1998), „Frankreich, wir kommen“ (2000), „Workingman's Death“ (2005) und „Whores' Glory“ (2011).

Spielfilme. Bekannt wurde er mit „Ameisenstraße“ (1995). Für „Slumming“ (2006) arbeitete er mit Paulus Manker. „Das Vaterspiel“ (2009) beruhte auf einem Buch Josef Haslingers. „Nacktschnecken“ (2003) und „Contact High“ (2009) handelten von Sex und Drugs. Rock 'n' Roll sollte folgen.

In memoriam: ORF ändert sein Programm

In memoriam Michael Glawogger ändert der ORF kurzfristig sein Programm: Kommenden Sonntag (27.April, 23.05Uhr) zeigt ORF2 seine 2005 erschienene Dokumentation „Workingman's Death“ über körperliche Schwerstarbeit unter extremen Bedingungen. Am Montag (28.April, 0.00 Uhr) steht in ORF2 Glawoggers Psychothriller „Das Vaterspiel“ auf dem Programm: die Verfilmung von Josef Haslingers Roman über eine junge Frau, die entdeckt, dass ihr greiser Großvater ein Nazi war. Anschließend zeigt ORF2 die Doku „Whores' Glory“ über den Alltag von Prostituierten in Thailand, Bangladesch und Mexiko. Glawoggers Kinofilm „Contact High“ steht bereits am Freitag (25.April, 20.15Uhr) auf dem Programm von ORF III. Auch Ö1 ändert sein Programm und sendet am Samstag ein „Diagonal: Michael Glawogger“ (26.April, 17.05Uhr).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2014)

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