Vivian Maier: Die geheime Kunst des Kindermädchens

Kindermädchen und Fotogenie: Vivian Maier auf einem ihrer zahlreichen Selbstporträts
Kindermädchen und Fotogenie: Vivian Maier auf einem ihrer zahlreichen Selbstporträts(c) Courtesy Everett Collection / Everett Collection
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»Finding Vivian Maier« rekonstruiert das Leben der verschlossenen Frau, die als Nanny gearbeitet hat und posthum als Fotografin entdeckt wurde.

Die Geschichte fängt an wie ein  Märchen. Der junge Amerikaner John Maloof, Makler und Hobbyhistoriker, ersteigert 2007 für 380 Dollar eine Kiste mit Negativen und stößt auf einen Schatz: Street Photography erster Güte, entstanden ab den 1950er-Jahren vorrangig in Chicago. Von der Urheberin weiß er nur den Namen, Vivian Maier, eine Internetrecherche führt zu keinem Ergebnis. Als er einen Teil der Bilder 2009 online veröffentlicht, erhält er überwältigende Reaktionen.

Maier ist zu diesem Zeitpunkt seit wenigen Monaten tot. Sie hat ihren Ruhm knapp verpasst. Vielleicht war das Pech, vielleicht Glück, wie der Dokumentarfilm "Finding Vivian Maier" nahelegt. Darin sucht Maloof gemeinsam mit dem Regisseur Charlie Siskel ausgehend von ihrer Todesanzeige nach dem Menschen Vivian Maier.

Dieser ist, wie sich herausstellt, ein Mysterium. Sie gab falsche Namen an, schrieb sich auf unterschiedliche Weise, verriet niemandem ihre Herkunft. Die leidenschaftliche, ja zwanghafte Sammlerin - Kleidung, Schmuck, Fahrkarten, Zeitungen - dokumentierte sich selbst. Unter ihren Fotos sind viele Selbstporträts, sie nahm Filme und Tonbänder auf, auf denen sie (selbstbewusst) mit französischem Akzent zu hören ist.

Exzentrischer Messie. Vivian Maier war vierzig Jahre lang Kindermädchen. Als exzentrisch beschreiben die inzwischen Erwachsenen, die in dieser Dokumentation ausgiebig zu Wort kommen, ihre ehemalige Nanny. Männerhemden, große Hüte, schwere Stiefel: eine seltsame Mary Poppins, die um den Hals immer ihre Rolleiflex-Kamera trug. Mehr als 100.000 Fotos hat Maier im Lauf ihres Lebens gemacht, von denen sie nur einen Bruchteil entwickeln ließ. Gezeigt hat sie ihre Fotos niemandem. Ebenso wenig wie ihre Zimmer, oft auf den Dachböden der Häuser, in denen sie arbeitete. Ein Messie, der sich nur auf schmalen Wegen zwischen all dem Zeug bewegen konnte. Hinter Türen, an die sie dicke Schlösser anbringen ließ. Fragte sie deswegen niemand nach ihren Fotos? Weil sie so verschlossen war?

Zum Märchen gehört auch die böse Hexe, in diesem Fall ist das Maier selbst. Einstige Schützlinge erzählen von ihrer Brutalität, ihren Ausbrüchen, von ihrer Angst vor Männern und davor, berührt zu werden. Eine ehemaligen Arbeitgeberin entließ sie, weil sie "zu verrückt" geworden war. Andere wiederum loben ihre soziale Ader. Ein Leben in Widersprüchen, zu denen die harmonische Filmmusik (J. Ralph) nicht recht passen will.

Ihren Brotberuf hat sich Maier nicht zufällig ausgewählt. Als Kindermädchen konnte sie sich frei in der Stadt bewegen, um zu fotografieren. Die Kinder nahm sie mit, selbst in Slums oder auf den Schlachthof. Die Rolle als Aufpasser, Beobachter - das haben Fotografen und Nannys gemeinsam. Die Spuren der Frau, die tatsächlich Vivian Maier hieß, führen nach Frankreich. 1926 als Tochter eines Österreichers und einer Französin in New York geboren, verbrachte sie einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend in einem Dorf in den französischen Alpen. In einem Brief verhandelt sie mit einem dort ansässigen Fotogeschäft über die Entwicklung ihrer Bilder. Wollte sie die Fotos doch herzeigen?

Gegen ihren Willen? Maiers Entdecker dient dieser Brief zur Legitimation. "Ich weiß, was wertvoll ist", erklärt  Maloof am Anfang des Films. Ihn ärgert die Ablehnung der Museen, Maier posthum - und vielleicht gegen ihren Willen - auszustellen. Wenn die Fotografin Mary Ellen Mark seine Entdeckung mit Größen des Genres wie  Diane Arbus oder Garry Winogrand vergleicht, dient ihm das als Absolu tion. Denn je mehr Maloof über Maier erfährt, desto deutlicher wird, wie sehr sie sein Handeln als Eindringen in ihren höchstpersönlichen Lebensbereich empfunden hätte. So entsteht ein Doppelporträt: das schillernde Fotogenie und der Mann, der sie ins Licht zerrt.

Der Ruhm hätte nicht nur Schattenseiten für das ehemalige Kindermädchen gehabt. Maiers Habseligkeiten wurden verkauft, weil sie die Miete für einen Lagerraum nicht mehr aufbringen konnte. Zuletzt zahlten zwei Brüder ihre Miete: Kinder, auf die sie einst aufgepasst hatte.

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