Beutet der österreichische Regisseur Ulrich Seidl Menschen für seine Filme aus? Manipuliert er? Und was bedeutet für ihn Sympathie? Zur Debatte um einen Nazi-Devotionalienbesitzer in seinem Film „Im Keller“.
Es ist keine Neuigkeit, dass Herr Ochs im Burgenland einen Keller mit Nazi-Devotionalien hat, das war im Fernsehen schon zu sehen. Erst jetzt, da man ihn im neuen Film von Ulrich Seidl sieht, wie er mit Mitgliedern seiner Blasmusikkapelle inmitten seiner Souvenirs „gmüatlich“ beieinandersitzt, ist es ein Skandal. Und auch da nur, weil zwei seiner damals mitgefilmten Kumpane mittlerweile ÖVP-Gemeinderäte sind.
Diese fühlen sich nun falsch dargestellt, Seidl habe sie nur als Statisten engagiert. Dass die Kollegen sich in dem Keller regelmäßig getroffen und gesoffen haben, ist aber bekannt. Ulrich Seidl hat in seinem neuen Werk „Im Keller“ also keineswegs in einem zuvor verborgenen Keller spioniert. Er ist nur der erste Außenstehende, der auf diesem Ort „beharrt“ – der dringeblieben ist.
Dieses Insistieren ist, was so viele an Seidls Kino irritiert, verstört, empört. „Die lange gehaltene Einstellung sorgt dafür, dass Unangenehmes spürbar wird, sich ganz direkt auch im Körper des Betrachters abzeichnet“, schreibt Stefan Grissemann in seiner Seidl-Monografie „Sündenfall“. Das zweite Verstörende ist der Verzicht auf Wertung bei Vorgängen, bei denen man es gemeinhin unbedingt erwarten würde.
Auch tiefe Neugier ist eine Wertung
In Wirklichkeit ist natürlich kein Seidl-Film wertungsfrei. Egal, ob „Tierische Liebe“ über Intimbeziehungen mit Haustieren, „Hundstage“ über abgründige Momente in der Wiener Vorstadt oder die „Paradies“-Trilogie, in der es um Sextouristinnen in Kenia, eine katholische „Fundamentalistin“ in Wien und übergewichtige Jugendliche in einem Diätlager geht – die Wertung kommt nur anders daher. Etwa in Form tiefer Neugier auf die menschlichen Randzonen einer Gesellschaft, oder durch die Art der Zurichtung der Bilder (Manipulation nennen es die Gemeinderäte, für den Regisseur ist es eine Verstärkung der Aussage).
Eine Art der Wertung ist auch die Sympathie zu seinen Figuren, die Ulrich Seidl immer wieder versichert. So nimmt er seinen Nazi-Devotionalienbesitzer, der in den Medien als „praktizierender Nationalsozialist“ bezeichnet wird, jetzt in Schutz, findet den Vorwurf der Wiederbetätigung ungerecht – Verharmlosung der Vergangenheit sei das, Nostalgie, und da gehe es nicht um einen Menschen, sondern ein ganzes System, ein Land . . .
Wenn man Rücksichtnahme und Mitleid als Bestandteil von Sympathie sieht, muss einen Seidls „Sympathie“ befremden. Sie ist vielleicht respekt-, aber ganz mitleidlos, schon von seinem ersten Film „Einsvierzig“ (1979) an, in dem er einen sehr kleinwüchsigen Wiener porträtierte.
Was die sich Seidl aussetzenden Menschen wohl spüren, ist, dass hier ein „gottverlassener“ Außenseiter die Außenseiter sucht und ernst nimmt. Was ihnen wohl weniger bewusst ist: Seidl nimmt sie als Werkzeuge ernst. „Fragen – wie wir leben, lieben und sterben – werden bei mir einfach nur infrage gestellt, durchaus auch gefühlsmäßig. Am Ende steckt hinter allem natürlich immer die Frage nach dem Sinn unserer Existenz.“ Seidls Filme sind eine zutiefst persönliche Lebenserkundung. Wenn der eingestandenermaßen an seiner katholischen Kindheit laborierende Regisseur immer wieder „in einer einzigen Einstellung ganze Sozialgewaltsysteme (Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, autoritäre Erziehung) zu registrieren und kurz zu fassen weiß“ (Grissemann), dann ist das schön, aber wie bei so vielen Künstlern „nur“ ein willkommenes Nebenprodukt.
Dass Künstler ihre Figuren gebrauchen, ist klar. Aber Seidls semidokumentarische Filme benutzen auch echte Menschen, da sind also auch moralische Fragen legitim: Missbraucht er das Zutrauen dieser Menschen? Lockt er sie als Rattenfänger in den Abgrund, um sie darin vorzuführen? Wie viel Risiko geht er ein, wie viel haben seine Figuren? Hat ein Regisseur, der aus fremden Wirklichkeitsmomenten ein neues Ganzes macht, Verantwortung für die realen Menschen in seinen Filmen? Und werden wir zu Komplizen, wenn wir mithilfe fremder Schicksale unsere eigenen „Abgrundstudien“ betreiben?
Hinter der Kamera – nach eig'nen Regeln
Wenn dem Kellerbesitzer ein Prozess droht, weil er Nazi-Relikte öffentlich gezeigt hat, „ist das nicht in meiner Absicht gelegen“, sagt Seidl. Dieser Schaden mag einem im Fall eines Nazi-Nostalgikers egal sein, droht aber genauso anderen „Mitspielern“ von Seidls Realitätskonstruktionen. Feigheit ist ein alter Vorwurf an die Künstler, die andere für sich leben lassen, sich hinter ihren Figuren verstecken. Natürlich setzt sich der Künstler auch selbst mit seinem Werk auseinander, aber hinter der Kamera – und nach eigenen Regeln.
Skandal um Nazi-Keller
Für zwei burgenländische ÖVP-Gemeinderäte hatte die Kellerszene, in der sie umgeben von Nazi-Devotionalien feiern, ein Nachspiel. Sie mussten zurücktreten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen des Verdachts auf Wiederbetätigung. Die Darsteller distanzierten sich vom NS-Gedankengut und erklärten, von Seidl bezahlte Statisten gewesen zu sein. Auch die Einrichtung habe er ausgewählt. Seidl dementierte: Der Raum sei von einer der handelnden Figuren eingerichtet worden, die Szene mit den früheren Gemeinderäten sei nicht erfunden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2014)