Die oft ahnungslosen Gehilfen des Films

(c) Clemens Fabry
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Damit sie nichts ausplaudern, lässt man Statisten im Unklaren: Sie erfahren oft nur, ob sie in einem Spielfilm oder einer Doku mitwirken. Und auch dabei werden sie manchmal getäuscht.

Ein Berliner Hotel im Jahr 1968. Zwölf Studenten, allesamt „deutsche Typen ohne Bart“, sitzen hintereinander, die einen mit bunten Korporationsmützen, die andern mit grauen Feldmützen aus dem Krieg auf dem Kopf, in der Hand NPD-Zeitungen. Es gibt Bier. Vor den jungen Männern steht ein älterer Schauspieler in grüner Uniform mit Hakenkreuz-Orden, er hält eine Rede: „Die Mauer muss weg!“ Wie zum Schwur legen die Studenten ihre Hände auf ein Buch. Schnitt!

Die Szene ist einem Bericht über einen Filmdreh entnommen, „Deutsche Typen im schiefen Licht“ titelte die Boulevardzeitung „B.Z.“ am 29. Oktober 1968. Die zwölf Studenten seien als Statisten beschäftigt gewesen, bekamen für ihren Einsatz 40 Mark Gage. In welchem Zusammenhang die Szenen verwendet würden, sei den Studenten nicht gesagt worden, nur der Arbeitstitel des Films: „Merkwürdigkeiten in europäischen Großstädten“. Aufnahmeleiter des italienischen Filmteams war laut „B.Z.“ übrigens Florian Trenker, der Sohn des bekannten Südtiroler Bergsteigers und Alpenfilmregisseurs Luis Trenker.

Weil die Studenten fürchteten, dass die Aufnahmen in einem Dokumentarfilm als echt dargestellt werden könnten, distanzierten sie sich davon. Der Regisseur arbeitete jedenfalls weiter im Dokumentarfach: 1969 erschien sein Film „Die andere Seite der Sünde“, der die (vornehmlich sexuellen) Abgründe der menschlichen Seele ausloten will – und etwa Szenen aus einem FKK-Bad in Skandinavien und aus dem Amsterdamer Rotlichtviertel zeigt.


Geheimhaltungsvorschriften. Dass Statisten bei einem Filmdreh nicht erfahren, wozu eine Szene verwendet wird, ist im Filmgeschäft nicht ungewöhnlich. „Bei gewissen Szenen wissen auch die Schauspieler nur das Nötigste über ihren Film, damit sie sich nicht verplappern“, weiß der Chef einer Künstleragentur, der nicht namentlich genannt werden möchte. Meistens habe das mit Geheimhaltungsvorschriften zu tun: Bei Krimis etwa sollen die Beteiligten nicht aus Versehen den Mörder verraten.

Über Agenturen wie seine werden bei den meisten Filmdrehs die Statisten vermittelt. Tausende Leute hat der Agenturchef in der Datenbank, Männer und Frauen, Dünne und Dicke, Schwarzhaarige und Blonde, Menschen mit Riesenschuhgrößen und besonderen Fähigkeiten, fein säuberlich kategorisiert nach hunderten Kriterien. Wird die Agentur von einer Produktionsfirma beauftragt, geht die Suche los, die Kartei wird durchforstet, auf Webseiten und Facebook werden Freiwillige gesucht, die für meist kleines Geld jene Figuren spielen, die im Film kaum bewusst wahrgenommen werden, aber trotzdem da sein müssen: Passanten, die hinter dem Hollywood-Star die Straße überqueren, Partygäste im Musikvideo, Kinder in der Schulklasse. Für ihren Einsatz bekommen sie meist eine Basisgage von 30 Euro pro Tag, mit Aufschlägen für Überstunden und Erschwernisse – etwa wenn sie Kellnererfahrung brauchen, um ein Tablett professionell zu tragen oder wenn in feiner Abendgarderobe gedreht wird.

Wofür genau sie sich bewerben, wissen die Statisten meist nicht. Für den „Mission: Impossible 5“-Dreh mit Tom Cruise im August in Wien war etwa unter dem Arbeitstitel „Taurus“ nach Statisten gesucht worden. Ob es sich um eine Doku oder einen fiktiven Film handelt, würde den Darstellern aber mitgeteilt, sagt der Agenturchef.

Statisten vor NS-Devotionalien.Jene zwei ehemaligen ÖVP-Gemeinderäte aus dem Burgenland, die jüngst wegen ihrer Darstellung in Ulrich Seidls neuem Film „Im Keller“ von ihren Ämtern zurücktreten mussten, wussten laut eigenen Angaben nicht genau, worauf sie sich einließen, als sie mit dem Filmemacher in den Keller gingen. Eine Szene, die auch im Trailer vorkommt, zeigt sie mit drei weiteren Männern um einen Tisch sitzen, sie heben ihr Glas und singen „Ein Prosit der Gemütlichkeit“. Im Hintergrund: ein gerahmtes Gemälde von Hitler, eine Puppe in Nazi-Uniform und eine Hakenkreuz-Fahne.

Die Darsteller, Musikanten der örtlichen Kapelle, seien von Seidl als Statisten ausgesucht worden, beteuerten sie später. Die „BVZ“ veröffentlichte tatsächlich den Werkvertrag, den die Männer ausgefüllt hatten. Als Gage bekamen sie demnach 35 Euro. Ulrich Seidl erklärte wiederum, sie seien Freunde des Kellerbesitzers und schon oft dort gewesen. „Sie waren natürlich keine Statisten.“

Zwischen Dokumentation und Fiktion.Streng genommen dürften sie aufgrund ihrer Rolle schon gar keine Statisten im ursprünglichen Sinn mehr sein. Statisten sind – so lautet die gängige Definition – Menschen im Hintergrund, die nicht tragend zur Handlung beisteuern. „Das, was im Theater als Dekoration herumsteht“, umreißt es der Agenturchef. Sobald sie einen Satz zu sprechen haben, gelten sie als Kleindarsteller. Dass ein Statist im Laufe eines Filmdrehs zum Kleindarsteller wird, sei nicht ungewöhnlich. Der Agenturchef kennt keinen Film, bei dem nicht kurzfristige Änderungen am Set vorgenommen wurden. Die Setaufsicht, die von der Agentur gestellt wird, kümmere sich in solchen Fällen darum, dass Vereinbarungen eingehalten und die Statisten entsprechend entlohnt werden.

Ob die Akteure in Seidls Film echt sind oder einem Drehbuch folgen – oder von beidem ein wenig – ist dem unwissenden Zuschauer wohl nicht klar. „Ich schöpfe aus der Wirklichkeit. Das ist für mich die Basis, aber es ist nicht so, dass ich einfach eins zu eins die Dinge aufnehme. Sobald man eine Kamera wo aufstellt, verändert sich die Wirklichkeit“, sagt Seidl.

Das ist wohl bei allen Dokumentarfilmen so: Der Filmemacher sucht die Akteure und Schauplätze aus, er wählt Kameraeinstellungen, er entscheidet, welche Szenen er verwendet und welche er weglässt. Michael Moore etwa will in „Bowling for Columbine“ demonstrieren, dass sich die Kanadier so sicher fühlen, dass sie ihre Häuser nicht absperren. Im Film findet er mehrere Haustüren hintereinander offen vor – eine Irreführung, meinen Dick Caine und Debbie Melnyk in der Doku „Manufacturing Dissent“: Er habe die verschlossenen Türen herausgeschnitten.

Universelle Regeln, wie weit ein Dokumentarfilmer gehen darf, gibt es nicht. Schon „Nanuk, der Eskimo“ (1922), der manchmal als erste Dokumentation der Filmgeschichte angeführt wird, war zum Teil inszeniert: Während Nanuk im Film mit traditionellen Waffen jagt, hatte er in Wirklichkeit längst ein Gewehr.

Den meisten Sehern werden solche Details egal sein. Dokumentationen geben uns ein Fenster in Wirklichkeiten, die wir selbst nicht erreichen können (oder wollen), vom Leben im Urwald bis zu den Eskapaden trinkwütiger Jugendlicher in Scripted Reality Shows. Wir lassen uns unterhalten, träumen von fernen Welten oder sind heilfroh, dass wir nicht in der Haut derer stecken müssen, deren Leben wir im Fernsehen als Voyeure verfolgen.

Dass nicht überall Realität drin ist, wo Doku drauf steht, ist dabei vor allem jüngeren Zuschauern nicht bewusst: Eine deutsche Studie fand 2011 heraus, dass die Hälfte aller Jugendlichen die Ereignisse in inszenierten Doku-Soaps für echt hält.

Wenn ein Film nicht klar als Dokumentation oder Fiktion zu erkennen ist, bewegen sich auch die Darsteller auf einem schmalen Grat zwischen Entblößung und Schauspielerei.

Ob die ehemaligen Gemeinderäte in Seidls „im Keller“ wussten, was sie tun, ist nicht klar. „Das sind ja verantwortungsbewusste erwachsene Menschen“, sagt zumindest Seidl, „und wenn sie bereit sind, sich da hinzusetzen neben den Ochs und zu trinken, dann wissen sie, was sie tun.“

Sie dürften es jedenfalls bereut haben: „Es war ein Fehler, an so einem Dreh teilzunehmen.“

Theater

Lebende Deko. Franzobel war erst Platzanweiser, dann Statist am Burgtheater, bevor er selbst Theatertexte schrieb. Auch der Lyriker H. C. Artmann war Ende der 1940er-Jahre in der Komparserie. Weitere prominente Statisten: Schauspielerin Elisabeth Lanz, Bariton Georg Nigl und Meinungsforscher Fritz Karmasin.

Karrierestart. Schauspielerin Hilde Dalik („Die Werksstürmer“) war in ihrer Ausbildungszeit Statistin an der Burg. Später wurde sie in den Bühnenchor „befördert“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2014)

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