Regisseur Meirelles: Keine Moral in den Geschichten

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Der brasilianische Regisseur Fernando Meirelles über „Stadt der Blinden“. Sein Film folgt dem Buch des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago.

Die Presse: Wie sind Sie auf José Saramagos Buch „Stadt der Blinden“ gestoßen?

Fernando Meirelles: Ich habe schon 1998 versucht, die Rechte zu kaufen, aber Saramago hat das verweigert. Jahre später habe ich einen Anruf erhalten, ob ich bei dem Filmprojekt die Regie übernehmen will. Es war eher ein großer Zufall. Schon damals hat mir diese Idee von der Zerbrechlichkeit der Gesellschaft gefallen. Wir nehmen stets an, dass wir so widerstandsfähig und stark sind, eigentlich tanzen wir aber am Abgrund.


Wieso hat es so lange gebraucht, bis José Saramago mit einer Verfilmung seines Romans einverstanden war?

Meirelles:Saramago hasst die USA. Ein US-amerikanischer Produzent hätte bei ihm keine Chancen gehabt. Er ist ein Kommunist wie Fidel Castro. Zum Glück war unser Produzent Kanadier.


Es mutet paradox an, in einem so visuell ausgerichteten Medium wie Film eine Geschichte über Blindheit zu erzählen.

Meirelles: Die Blindheit war nicht unser größtes Problem. Das war die Geschichte im Buch: Saramagos Figuren haben weder Namen noch eine Vergangenheit. Für einen Film ist das eine schwierige Ausgangslage. Der Hollywood-Weg wäre es, in einem ersten Akt alle wichtigen Figuren einzuführen und sie sympathisch zu zeichnen. Hätten wir das gemacht, wäre der Film viel wärmer geworden. Wir haben uns dann doch für die Struktur des Buchs entschieden. „Stadt der Blinden“ erzählt nichts aus dem Leben vor der Erblindung. Wir waren mutig oder blöd genug, auf Figuren zu vertrauen, die nicht wirklich liebenswert sind: eine Prostituierte, einen Dieb, eine dumme Ehefrau, die nur für ihren Mann lebt, und einen arroganten Ehemann.

Ihr Film spielt in São Paolo. Wieso haben Sie ihn in Ihrer Heimatstadt angesiedelt?

Meirelles: Weil ich eine generische Stadt erschaffen wollte. Ebenso sollte die Besetzung so multi-ethnisch wie möglich sein. Ich wollte den Leuten nicht das Gefühl geben, dies könnte Chicago sein, und die Handlung sei eigentlich eine Parabel auf die Amtszeit von George W. Bush. São Paolo eignet sich dafür hervorragend: Es ist eine Stadt, die kaum jemand kennt.

Wie haben Sie die Schauspieler auf ihre Blindheit vorbereitet?

Meirelles: Wir haben einige Workshops abgehalten und Übungen gemacht. Die Schauspieler mussten zum Beispiel mit verbundenen Augen einem Mann mit einer Glocke folgen: Immer wenn er geklingelt hat, sollten sie ihm bedingungslos vertrauen. Etwa eine stark befahrene Straße kreuzen.

Sie sind Teil einer neuen Regisseurs-Generation aus Brasilien, einem Land mit einer sehr starken Kinotradition. Woher kommt dieser neue Schwung für das brasilianische Kino?

Meirelles: Seit einigen Jahren gibt es rechtliche Rahmenbedingungen, die es viel attraktiver machen, in einen brasilianischen Film Geld zu investieren. Wo früher nur zehn Filme produziert wurden, sind es heute über siebzig. Auch deshalb gibt es neue Regisseure und neue Drehbuchautoren.


Wie stehen Sie zum brasilianischen Cinema Novo aus den 60er-Jahren, einer formal und inhaltlich sehr strengen Kinobewegung?

Meirelles: Wie bei allen ästhetischen Bewegungen widerspricht die neue Generation der alten. Das heutige brasilianische Kino versucht, einen Dialog mit dem Publikum herzustellen, das Cinema Novo war daran überhaupt nicht interessiert. Meine Filme sind sehr offen, man kann sie auf verschiedene Arten lesen und verstehen. Es wirft mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Cinema Novo hingegen ähnelte einem Buch, in dem einem gesagt wurde, was man zu denken hatte – etwa: „Der Kapitalismus ist böse, böse, böse!“ Unsere jetzigen Filme sind postmodern, es gibt keine Moral mehr in unseren Geschichten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2009)

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