Jarvis Cocker: "Eigentlich hasste ich Stahl"

FRANCE MUSIC JARVIS COCKER
FRANCE MUSIC JARVIS COCKEREPA
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Jarvis Cocker, der giraffengroße Exsänger von Pulp, setzt mit dem Dokumentarfilm "Big Melt" seiner Heimatstadt Sheffield ein Denkmal. Die "Presse am Sonntag" traf ihn im Hotel Sacher.

Sie sind nur mit Frauen im Haushalt aufgewachsen. Wie hat Sie das als Mann geprägt?

Jarvis Cocker: Schwer zu sagen. Ich hab ja keinen Vergleich. Meine Überzeugung, dass ich Frauen besser verstehe, hat zu tiefen Konflikten mit meiner Exfrau geführt. Sie sah das als Anmaßung, wahrscheinlich hatte sie recht. Als Kind hab ich den Frauen in meiner Umgebung sehr aufmerksam zugehört. Sie sprachen oft über ihre Probleme mit Männern. Das vermittelte mir früh ein negatives Bild von Männern. Unglücklicherweise war ich selbst einer.

Sie sagten einmal, Sie hätten Ihre Band Pulp nur gegründet, um einfacher mit Mädchen ins Gespräch zu kommen. Ist das immer noch Ihr Antrieb?

Nein, es wäre traurig, wenn es so wäre. Aber als Jugendlicher mit Anschlussproblemen war es durchaus legitim, mit diesem Ansinnen eine Band zu gründen. Die meisten, die eine Band gründen, sind irgendwie Außenseiter.

Sie haben eben mit Martin Wallace den Film „Big Melt“ fertiggestellt, eine Hommage an Sheffield. Hat sich Ihr Blick auf die Heimatstadt in Ihren Pariser Jahren geschärft?

Ich denke, mein Auszug nach London war in dieser Hinsicht wichtiger, weil es das erste Mal war, dass ich Sheffield von außen wahrgenommen habe. Kürzlich erst habe ich chinesischen Studenten geraten, sich bewusst mit ihrer Umgebung zu befassen. Von ihr wird man in der Regel mehr inspiriert als von Biografien berühmter Künstler. Mir wurde erst in London bewusst, wie blind ich für die so wichtigen Alltagsszenerien war, als ich noch in Sheffield lebte. Erst als Sheffield aus meinem Gesichtsfeld verschwand, konnte es Thema meiner Kunst werden. Und Paris hat mich zum Grübeln über London gebracht.

Welche Rolle spielte das British Film Institute für die Entstehung des Films?

Es suchte nach einer Möglichkeit, sein Archivmaterial in die Welt hinauszutragen. Das erste ähnliche Projekt realisierte es mit der Band British Sea Power: Damals ging es um alte Aufnahmen von Englands Küsten. „Big Melt“ ist nun der zweite Film in dieser Reihe. Weil ich aus Sheffield stamme, fragten sie mich. Was sie nicht wussten: Ich hasste eigentlich Stahl. Wenn man an einem solchen Ort aufwächst, will man für gewöhnlich nichts davon wissen. Ich habe nicht eine Sekunde in dieser Industrie gearbeitet.

Ging es Ihnen schon früh darum, dem Los der körperlichen Arbeit zu entfliehen?

Es muss wohl so gewesen sein. Als Schüler hab ich samstags auf einem Fischmarkt ausgeholfen. Es war weder besonders hart noch kompliziert. Während der Arbeit an „Big Melt“ wurde mir bewusst, wie die Stahlindustrie den Charakter von Sheffield und seinen Bewohnern geformt hat. Auch meinen. Im Film tauchen Charaktere auf, die es heute so nicht mehr gibt. Damals hat man Reales gegen Reales getauscht. Heute sind wir in der Phase eines abstrakten Kapitalismus, sodass wir nicht erkennen können, woher das Geld kommt und was es mit uns macht.

Owen Jones hat vor ein paar Jahren seinen Bestseller „Chavs – The Demonization of the Working Class“ herausgebracht. Was halten Sie von seiner Theorie, und wo sehen Sie die Arbeiterklasse heute?

Ich habe das Buch nicht gelesen, aber eines ist klar: Die Arbeiterklasse wurde durch die Politik Margaret Thatchers marginalisiert, ja zerstört. Die schmutzige, gefährliche Arbeit wurde größtenteils nach Asien verlagert. Die Arbeiter sind mehr und mehr zu Konsumenten degradiert worden. Nach dem Crash von 2008 wurde den Leuten eingeredet, sie sollten die Wirtschaft mit ihren letzten Ersparnissen stimulieren. Das finde ich ganz schön arg. Wenn die Politik denkt, nur so könne sich das Individuum nützlich machen, so finde ich das ziemlich deprimierend.

In Ihrem Film geht es aber auch um die Strategien, die die Arbeiter entwickelt haben. Könnten Sie da Details beschreiben?

Man sieht Leute, die eine eigene Zeichensprache entwickelt haben, um im Tosen der Maschinen kommunizieren zu können. Ihr Arbeitsplatz war eine Art Hölle, auf die sie sich einstellen mussten. Sie rangen mit etwas sehr Elementarem. Am Ende sieht man Szenen mit blubberndem, flüssigem Stahl. Es mutet wie ein Blick ins Erdinnere an. Dort zu arbeiten hatte wohl eine gewisse Science-Fiction-Anmutung. Ich hege viel Respekt für diese Leute.

Sie zeigen sie auch bei ihren rührenden Versuchen, sich zu zerstreuen, etwa mit Monopoly. Sind Sie nicht als Musiker auch Teil einer Eskapismusindustrie?

In gewissem Sinn sicher. Auch für mich als Hörer ist Musik oft eine Art Flucht. Die Monopoly-Szene finde ich so rührend, weil sich die Leute so über den imaginären Besitz von Hotels und Fabriken freuen. Andererseits ist das natürlich auch traurig. Ich selbst habe nie Monopoly gespielt. Mir ist das zu fad.

Die neue zornige Stimme des britischen Pop sind die Sleaford Mods. Was halten Sie von ihnen?

Ich hab sie mir noch nicht angehört, aber ihr Ruf ist zu mir durchgedrungen. Popmusik war immer sehr zentral für die hiesige Arbeiterschaft. Aber seit es mit der Qualität in den Charts so bergab geht, verstehen viele Leute Gruppen wie die Sleaford Mods nicht mehr. Es ist selten geworden, dass sich Menschen aus der Arbeiterklasse Musik anhören, die sie mit dem konfrontiert, dem sie entfliehen wollen: mit der schlechten Laune, mit den politischen Verhältnissen. Wir fantasierten früher nicht nur über Frauen und viel Geld, sondern auch darüber, dass mit dem Erfolg als Band alle Probleme gelöst wären. Eine Illusion, wie sich später herausstellte.

Doch die Musik bleibt. Wie stellen Sie sich einen perfekten Song vor?

Mich muss ein Lied vor allem einmal sprachlich packen. Die Musik selbst muss entweder beruhigen oder aufrütteln, mich auf eine Wolke befördern oder mich springen lassen. Irgendein Zwischending mag ich nicht.

Suchen Sie sich bei Ihren Auftritten auch Gesichter in der Menge aus, die Sie dann konkret ansingen?

Nein, das kann ich nicht. Meine Brillen beschlagen doch immer. Mit Kontaktlinsen ginge es, aber ich halte nicht viel davon. Wenn ich den Fans in die Augen schaue, dann erwarte ich mir keinen echten Erkenntnisgewinn.

Steckbrief

1963
Geboren in Sheffield, Nordengland. Sein Vater war Radio-DJ und Schauspieler, er setzte sich nach Australien ab. Die Mutter wurde konservative Stadträtin.

1978
Gründung der Band Arabacus Pulp, später auf Pulp verkürzt.

1988–1991
Filmstudium auf der Central St. Martins.

1994
Durchbruch mit dem Album „His 'n' Hers“.

2001
Letztes Pulp-Album „We Love Life“.

2005
Cocker mimt in „Harry Potter and the Goblet of Fire“ einen Musiker.

2006
Erstes Solalbum „Jarvis“.

2009
BBC-Radiosendung „Sunday Service“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2014)

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