„Winterschlaf“: Ein Film wie ein Tschechow-Stück

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Ja, es wird sehr viel geredet in „Winterschlaf“. Doch die hyperrealistischen Digitalgemälde des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan können begeistern.

Irgendwo in Kappadokien, wo die sonderbaren Felsformationen aussehen wie eingeschmolzene Kerzenreste, ist ein Hotel ins Gestein eingefasst. Geführt wird es von Aydin (Haluk Bilginer), einem bärtigen und behäbigen Ex-Schauspieler, der hier mit seiner jüngeren Frau Nihal (Melisa Sözen) und seiner geschiedenen Schwester Necla (Demet Akbağ) zusammenlebt. Aydin hat es zu Wohlstand gebracht und genießt in der zerklüfteten Gegend (die moderner Zivilisation nicht nur topografisch entrückt scheint) im wörtlichen wie im übertragenen Sinne den Status eines Grundherrn, wobei sein Selbstbild völlig verzerrt ist: Er hält sich für ein rechtschaffenes Leitbild und gibt öffentlich den großmütigen Gönner, hinterrücks schickt er säumigen Mietern den Exekutor an den Hals, da er persönliche Konflikte scheut. In seiner Freizeit schreibt der Lokalpatriarch Artikel über Sitte und Anstand für ein Regionalblatt, deren Blasiertheit jedem auffällt außer ihm, und die Beziehung zu seinen Mitbewohnerinnen sieht auch nur durch Aydins Lesebrille rosig aus – doch der ins Land ziehende Winterwind droht die Gemüter umzustimmen und sämtliche Illusionen fortzufegen.

Soweit das Setting der epischen Erzählung „Winterschlaf“, für die der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan 2014 die Goldene Palme in Cannes gewann. Er ist der bekannteste Vertreter einer Gruppe von Filmkünstlern – darunter sind auch Reha Erdem und Semih Kaplanoğlu – die das türkische Arthauskino im letzten Jahrzehnt nach längerem Schattendasein wieder in den internationalen Aufmerksamkeitsradius gerückt haben.

Spezialgebiet des gelernten Elektroingenieurs Ceylan ist die mit archaischen Landschaftsaufnahmen veredelte Demontage bürgerlicher Scheinwelten. Begonnen hat er in den Neunzigern mit intimen Kleinproduktionen, gedreht an vertrauten Orten mit Freunden und Verwandten, der Durchbruch gelang ihm 2002 mit „Uzak – Weit“, dem autobiografisch angehauchten Porträt eines Fotografen in der Schaffenskrise.

Das Drama ist in den Dialog gewandert

Ceylan ist selbst Fotograf, der immer noch ausstellt – seine meist düsteren Breitwandpanoramen wirken wie hyperrealistische Digitalgemälde und zeugen von einem ausgeprägten Drang zur Nachbearbeitung, der sich auch im nobelmelancholischen Look seiner Filme bemerkbar macht. In letzter Zeit geraten diese aber immer drehbuchlastiger und strukturell ausgeklügelter: War die Ehekiste „Climates“, in dem Ceylan selbst mit seiner Partnerin und regelmäßigen Ko-Autorin Ebru vor der Kamera stand, noch ein einziges Rätselraten um die Gefühle hinter den schönen Gesichtern, wandert das Drama seit der Polit-Parabel „Three Monkeys“ sukzessive in den Dialog, während sich der Blick vom Privaten auf das Gesellschaftliche weitet. Auch die Dauer der Arbeiten nimmt stetig zu: „Winterschlaf“ erringt mit über drei Stunden einen bisherigen Rekord. Ob der Film darob Gefahr läuft, einen selbst in den Schlaf zu wiegen, wird man schnell wissen: Tempo und Tonfall sind nach ein paar Szenen etabliert und ändern sich danach nur noch unwesentlich.

Es wird viel geredet in „Winterschlaf“. Sehr, sehr viel. Böse Zungen könnten ätzen, Ceylans neuestes Werk sei ein ernster Woody-Allen-Film in Zeitlupe, aber das würde der Feinheit der Figurenzeichnung nicht gerecht. Die Gespräche brauchen Zeit, um ihren Kern zu finden, umschleichen diesen zunächst mit dem Austausch von Höflichkeiten oder der Erörterung allgemeiner Themen, die selten die Sprechenden direkt zu betreffen scheinen. Man fühlt sich geborgen in den mit allerlei Kulturnippes ausdekorierten Stuben, erfüllt vom Verbalzierrat weltgewandter Wortwechsel. Doch bald merkt man, dass die Waffen schon längst gezückt sind und die Eskalation (oder zumindest eine bittere Erkenntnis) nur noch wenige Sätze entfernt.

Doppelmoral des Despoten entlarvt

Vornehmlich ist es Aydin, der auf diese Weise ins Schussfeld gerät, sich entweder selbst bloßstellt oder von anderen bloßgestellt wird. In Aussprachen mit dem armen Imam Hamdi (Serhat Mustafa Kiliç), der um ein Mietmoratorium bettelt, kommt sein ganzer Klassendünkel zum Vorschein. In Diskussionen mit seiner Frau erweist er sich als selbstgerechter Ehetyrann, der keinen Emanzipationsversuch duldet. Seine Schwester entlarvt die Doppelmoral seiner selbstgefälligen, reaktionären Weltsicht. Doch sind die Wörter auch Pfeile im Herzen des Despoten, zu Fall bringen sie ihn nicht. Gedankenversunken strauchelt er, der selbst verlorenen Träumen nachweint, durch etwas gar zu symbolschwangere Zwischensequenzen, in denen etwa Wildpferde eingefangen werden, dann revanchiert er sich bei seinen Kritikern mit passiv-aggressiven Standpauken, und der peinliche Reigen geht weiter.

In den besten Szenen schafft Ceylan, unterstützt von seinen durch die Bank großartigen Schauspielern, eine Balance zwischen geschriebener Künstlichkeit und gestischer Authentizität, die so etwas wie Wahrheit hervortreten lässt – aber eigentlich steckt alles, was man über die dargestellten Verhältnisse wissen muss, schon in Aydins jovialem Lacher. Als zentrale Inspirationsquelle für „Winterschlaf“ nennt Ceylan Tschechow. Wie beim russischen Meister der Tristesse bleibt auch in Kappadokien alles beim Alten, und der Glaube an ein besseres Morgen ist schon bald Schnee von gestern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2015)

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