Filmgeschichte: Der dröhnende, plappernde Panzerkreuzer

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Zufällig im Technischen Museum gefundene Schellackplatten enthielten die lang verschollen geglaubte Tonfassung von Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“. Ein faszinierendes Artefakt, erstmals im Filmmuseum zu sehen.

Es ist eine der berühmtesten Szenen der Stummfilmzeit, wenn nicht der ganzen Filmgeschichte: Ein führerloser Kinderwagen ruckelt ungebremst eine mit Leichen übersäte Freitreppe herunter, gefolgt vom Todesmarsch einer gesichtslosen Kosakenkompanie, formal aufgelöst in einem suggestiven Schnittmassaker, das sich bei näherer Betrachtung als minuziös durchdachte Kleinarbeit erweist. Sie stammt aus der Odessa-Sequenz aus Sergei M. Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, 1925 uraufgeführt, bis heute einen Fixstern am Himmel des Kinokanons. Das sowjetische Propagandastück – umgesetzt von einem begnadeten Bilderstürmer – gilt als Flaggschiff der Filmmoderne. Viele begegnen dem, was man als Kinoavantgarde bezeichnen könnte, erstmals bei einer Sichtung des „Panzerkreuzers“ – vielleicht auf der großen Leinwand, vielleicht nur auf YouTube. Doch den wenigsten ist bekannt, dass es mehrere Fassungen gibt, die sich in der Montage, aber wesentlich auch in der Tonspur voneinander unterscheiden, dass jede dieser Fassungen einen originären historischen Gehalt hat und sich in ihrer Wirkung kaum mit den anderen vergleichen lässt.

Musik des Wieners Edmund Meisel

2002 stieß der Filmhistoriker Martin Reinhart im Medienarchiv des Technischen Museums in Wien zufällig auf den mysteriösen Katalogeintrag „Nadeltonplatte Potemkin“. Wie sich herausstellte, handelt es sich dabei um Schellackplattenaufnahmen mit Musik des aus Wien gebürtigen Komponisten Edmund Meisel – offenbar dessen legendärer Soundtrack zu Eisensteins Klassiker. In Korrespondenz mit dem Regisseur erarbeitete Meisel, damals Kapellmeister der linken Piscator-Bühne in Berlin, ein peitschendes, donnerndes Orchesterwerk, das im Westen maßgeblich zum Erfolg des zensurbedingt leicht umstrukturierten Films beitrug.

Nach der Digitalisierung der Platten die nächste Überraschung: Das experimentelle Klangmosaik, das sich den Forschern offenbart hat, hat wenig mit der bisher bekannten, aus Partituren extrapolierten Begleitmusik zu tun, es scheppert, dröhnt und plappert in ganz eigenen Kadenzen. Vor allem die Sprechpassagen legen nahe, dass man die lang verschollen geglaubte deutsche Tonfassung des „Panzerkreuzers“ geborgen hat, die der damalige Rechteinhaber, die kommunistisch geprägte Prometheus-Film-GmbH, 1930 für eine Neuveröffentlichung unter Meisels Leitung hat anfertigen lassen. Dafür wurde die Bildfrequenz dem schnelleren Stand der Zeit angepasst und die Orchesterpartie mit teils illustrativen, teils kontrapunktischen Geräusch- und Lärmeffekten angereichert. Besonders interessant erscheinen aus heutiger Sicht aber die Entfernung der Zwischentitel und die deutschsprachige Nachsynchronisation – eine der ersten ihrer Art. In einem langwierigen Prozess konnten die Entdecker mit der Unterstützung wissenschaftlicher Institutionen aus Wien und Berlin die adäquate Schnittfassung rekonstruieren und mit der Tonspur verbinden. Das Resultat ist ein faszinierendes kulturelles Artefakt, eine volltönende, manchmal geradezu hysterische Mutation des gewohnten Bildgewitters. Egal, was man davon hält: Es ist ein anderer Film.

Der Fall Potemkin ist beispielhaft für die eigentümliche Unstetigkeit von Filmen als historische Objekte. Für den mit Reinhart für die Rekonstruktion verantwortlichen Filmwissenschaftler Thomas Tode ist der „Panzerkreuzer“ eine „Matrjoschka-Puppe“: Die mehr als zehn bekannten Versionen führen das Konzept eines Originals ad absurdum.

Trotzki-Zitat in der UdSSR entfernt

Je nach Aufführungsland, politischer Situation oder Forschungslage wurde Eisensteins Klassiker adaptiert, zergliedert und neu zusammengesetzt – einmal lief er mit 18 Bildern pro Sekunde, ein andermal mit 24, ursprünglich eröffnete er mit einem Trotzki-Zitat, aus späteren Sowjet-Neuauflagen wurde dieses entfernt. Hanuš Burgers „Seeds of Freedom“, eine US-Edition aus dem II. Weltkrieg, bettete ihn gar über Rückblenden in eine neu gedrehte, englischsprachige Spielhandlung ein. Die Musikspuren sind ohnehin Legion. Von keiner dieser Fassungen ließe sich wirklich behaupten, sie sei die „Richtige“. Jede von ihnen spiegelt zeitgenössische Rahmenbedingungen wider und sprach auf ihre Weise zu einer bestimmten Publikumsgeneration.

Es ist der interdisziplinären Arbeit von Archiven und Museen zu verdanken, dass die mannigfachen Inkarnationen eines Films wie „Potemkin“ erhalten und erfahrbar gemacht werden, wobei es in Zeiten schwindender Kulturmittel schwieriger wird, verdeckten Parallelexistenzen zentraler Werke wie der Wiener „Panzerkreuzer“-Fassung, aber auch weniger ruhmreichen, schlicht vom Vergessen bedrohten Werken einen „zweiten Atem“ einzuhauchen: So heißt auch die Schau im Wiener Filmmuseum, bei der die Nadeltonfassung des „Panzerkreuzers“ nun erstmals in Österreich zu sehen ist – in Sondervorführungen mit einleitenden Vorträgen als Digital Cinema Package (DCP), auch weil sie für eine DVD-Ausgabe präpariert wurde. Der Rest des Programms, das bis 11. März Restaurierungen des Hauses aus den vergangenen zehn Jahren bringt, läuft mediengemäß auf Film.

Im Filmmuseum am Freitag, 6. März, 20.30 Uhr, Sonntag, 8. März, 14 Uhr, Sonntag, 15. 3., 17 Uhr.

Im Technischen Museum läuft der Film – auf kleinerer Fläche – ab Freitag in Dauerschleife.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2015)

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