Das Kilogramm und die Erregung, die im Kopf beginnt

1001 Gramm
1001 Gramm(c) Polyfilm
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Der norwegische Regisseur Bent Hamer schildert Leben und Liebe einer Frau, die beim Eichamt arbeitet. Und entsprechend kühl wirkt.

Eigentlich fragt man die Frau, der man näherkommen möchte, etwas anderes. Ob sie ihre Ferien lieber in den Bergen oder am Strand verbringen möchte, etwa. Doch der französische Gärtner Pi (Laurent Stocker) entscheidet sich gegenüber der norwegischen Eichamtsangestellten Marie (Ane Dahl Torp) für die Frage: „Zu welcher Schule gehören Sie? Soll man das Kilo waschen, bevor man es wiegt, oder nicht?“ Die Antwort kommt prompt, willig und eindeutig: „Nicht waschen!“ In Bent Hamers „1001 Gramm“ ist mit diesem Dialog bewiesen, dass sich zwei verwandte Seelen gefunden haben und der Weg zu einem zarten Glück geebnet ist. Sie ist aus Norwegen, er aus Frankreich, und doch sprechen sie gewissermaßen die gleiche Sprache. Zumindest sind sich einig darüber, welche Fragen tatsächlich von Gewicht sind. Und Gewichte stehen im Zentrum von „1001 Gramm“. Besser gesagt: ein Gewicht, nämlich das Kilogramm.

Selten hat man es so glamourös gesehen. Seine erste Enthüllung ist eine feierlich-ernste Angelegenheit. Da wird ein großes, patronenartiges Behältnis aus einem kühlen Safe geholt, darin verbergen sich weitere gläserne Behältnisse, die schließlich den Blick freigeben auf einen kleinen, unscheinbaren metallenen Zylinder. So sieht es aus, das norwegische Norm-Kilo. Marie soll es zu einer internationalen Konferenz nach Paris mitnehmen. Dort wird gewogen werden. „Mal sehen, ob das französische Kilo wieder zu leicht ist“, witzelt man in Maries Institut im Vorfeld. Beim Treffen der Kiloträger in Paris aber regiert wieder ganz der Ernst ihrer gewichtigen Angelegenheiten. In einer wunderbar skurrilen Szene, die zugleich etwas Anrührendes hat, stellen sich die Spezialisten aus aller Welt ehrfürchtig an, um einen Blick auf den Kilo-Prototyp von 1889 zu erhaschen. Es passiert nichts weiter, man sieht den Ernst auf den Gesichtern, verfolgt die weihevolle Stimmung und versteht, dass ein unscheinbarer Zylinder versehen mit dem richtigen Kontext tatsächlich Leidenschaften entzünden kann. Es ist die trockene Definition von Erotik: Die Erregung beginnt im Kopf, und Schönheit liegt im Auge des Betrachters.

Die Szene ist symptomatisch für Hamers besonderen Humor, der schon den Erfolg seiner Filme „Kitchen Stories“ und „O'Horten“ ausmachte. Er lässt seinen ganz in ihrer Welt gefangenen Figuren viel Zeit; er filmt sie mit Respekt sowohl für ihren Eigensinn wie für die Räume, in denen sie sich bewegen. Seine Aufnahmen konzentrieren sich oft in pseudo-dokumentarischer Weise auf Prozedere und Anordnungen; die Figuren verharren dabei in skandinavischer Lakonie und äußerlicher Ungerührtheit. Doch über die Dauer gelingt es Hamer, eine komplizenhafte Vertrautheit zwischen Kinozuschauern und den gezeigten Menschen und Dingen zu schaffen.

Gewichtige Metaphern

In „1001 Gramm“ treibt er dieses Prinzip auf die Spitze. Marie, die Heldin im Zentrum, wirkt trotz ihrer mädchenhaften Zartheit fast roboterhaft kühl, wenn sie sich am Anfang ganz emotionslos mit ihrem Exmann darüber verständigt, wann er die letzten Dinge aus der einst gemeinsamen Wohnung holen soll. Leidenschaft merkt man ihr erst an, wenn man sie bei ihrer Arbeit auf dem Eichamt sieht. Und ein Gefühl für ihre Menschlichkeit bekommt der Zuschauer zu Beginn nur in den Szenen mit dem Vater, der offenbar ahnt, dass er bald sterben wird. In Maries Gesprächen mit ihm häufen sich die Metaphern rund um das Kilo-Thema: die Last, die jeder zu tragen hat; das Wiegen, was im Leben Wert besitzt; in die Waagschale werfen, was zur Geltung gebracht werden soll. Dabei verlässt sich Hamer ein bisschen zu sehr auf das Spiel mit diesen übertragenen Bedeutungen. Marie als reale Figur, die im Lauf des Films wie programmiert zu neuer Liebe und neuer Lockerheit findet, gerät ihm zu skizzenhaft, um nicht zu sagen: zu leichtgewichtig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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