Linzer Filmfestival: In Russland, zwischen den Fronten

Sergei Loznitsa
Sergei Loznitsa (C) Crossing Europe
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Der Ex-Kybernetiker Sergei Loznitsa ist einer der intelligentesten Kinokünstler von heute. „Crossing Europe“ widmet ihm eine sehenswerte Werkschau.

Sergei Loznitsa ist jemand, der nachdenkt, bevor er etwas in Angriff nimmt. Ob Spiel-, Dokumentar- oder Kompilationsfilm: Das Formbewusstsein und der Reflexionsgrad seines Schaffens machen es zum Fels in der zeitgenössischen Bilderbrandungsbeliebigkeit. Seine Arbeiten tragen die Handschrift eines Renaissancemenschen – der gebürtige Weißrusse studierte angewandte Mathematik in Kiew, forschte als Kybernetiker über Entscheidungsprozesse künstlicher Intelligenzen, nebenher war er Übersetzer aus dem Japanischen. Dann zog es ihn an die Moskauer Filmakademie.

Schließt man von dieser Biografie auf ein abstraktes Kunstverständnis, hat man nur zur Hälfte recht. Das dokumentarische Frühwerk macht auf den ersten Blick einen trügerisch einfachen, fast archaischen Eindruck, erinnert zuweilen an Reisefilme und Alltagsbeobachtungen aus den Kindertagen des Mediums. Auf harschem 35mm-Material gedrehte Schwarz-Weiß-Totalen aus dem Nirgendwo des russischen Hinterlands, wortlose Porträts verfallender Weiler und ihrer Bewohner, Menschen bei der Arbeit oder beim Warten auf den Bus. Die kurzen und mittellangen Filme tragen lakonische Titel – „Siedlung“, „Landschaft“, „Fabrik“. Sieht und hört man genauer hin, erschließt sich die Präzision der Gestaltung. Die Bilderfolgen sind über Schwarzblenden subtil rhythmisiert und übersteigen so die Trivialität ethnografischer Notizen, werden zu kleinen Monumenten einer Ländlichkeit im Wandel.

Schon hier setzt Loznitsa auf die stimmungsbildende Wirkung einer unabhängigen Tonspur. Bei seinen späteren Montagefilmen unterlegt er Archivmaterial mit einer akribisch gebauten, aber betont diffusen Klangkulisse, die die Bilder belebt, ohne sie in Beschlag zu nehmen. „Blockade“ skizziert kommentarlos das Leben im belagerten Leningrad während des Zweiten Weltkriegs. Der Ton schafft eine Atmosphäre der Normalität, in der Momente des Grauens (Leichen werden auf Schlitten durch die Straßen gezogen) umso schockierender wirken. „Revue“ ist eine Art Selbstporträt der Chruschtschow-UdSSR, das Sein und Schein geschickt gegeneinander ausspielt.

Der erste Spielfilm, der 2010 im Cannes-Wettbewerb lief, wendet sich erneut der Provinz zu: „My Joy“ schickt den Zuschauer an der Seite eines LKW-Fahrers auf eine Albtraumwanderung durch die Sozialtundra Russlands. Statt Doku-Statik bietet das schlingernde Düsterepos eindrucksvolle Plansequenzen, springt furchtlos zwischen Figuren und Epochen hin und her.

Das Motiv der Gefangenschaft durchzieht auch die formvollendete Bykov-Adaption „In the Fog“: Ein weißrussischer Saboteur fällt 1942 zwischen die Kriegsfronten, die Ausweglosigkeit seiner Situation wirft ethische Grundsatzfragen auf.

Ukraine-Doku „Maidan“

Als im November 2013 Proteste in der Ukraine losbrachen, war Loznitsa mit einer Gruppe von Kameraleuten dort und begleitete den Umsturz. Das Resultat, die Doku „Maidan“, setzt die Revolution ohne billiges Pathos oder falsche Neutralität ins Bild. Als Mosaik aus unbewegten Ansichten von Massenbewegungen wahrt es kritische Distanz, doch die Stimmen des Widerstands geistern immer lauter durch die hochkomplexe, nur scheinbar „natürliche“ Tonspur. Propaganda, so sagt Loznitsa, lässt den Gedanken des Publikums keinen Raum. Verantwortungsvolles Kino müsse anders funktionieren – sonst gebe es keine Freiheit, und folglich keine Zukunft.

„Crossing Europe“: Linz, 23. bis 28.April.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2015)

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