„Sacro GRA“: Die Autostrada der Außenseiter

Sacro Gra - Das andere Rom
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Zum ersten Mal hat ein Dokumentarfilm den Goldenen Löwen erhalten: Für „Sacro GRA“ filmte Gianfranco Rosi zwei Jahre lang auf und an Roms Ringautobahn: Poetische Einblicke in Existenzen abseits der Stadt, Gesellschaft, Normalität.

Sechs Spuren breit, 68,2 Kilometer lang: Das ist die Grande Raccordo Anulare, die größte Ringautobahn Italiens. In Gianfranco Rosis Dokumentation „Sacro GRA“, so der nationale Kosename, heißt es zu Beginn, sie würde Rom umspannen wie die Ringe den Saturn. Entsprechend poetisch gestaltet Rosi, der sich für zwei Jahre mit Kamera und Minivan in den Orbit des Gürtelverkehrs einklinkte, sein Material. Gleichsam auf filmischer Durchreise gewährt er flüchtige Einblicke in buchstäblich exzentrische Trabantenexistenzen und zeichnet ein peripheres Welt- und Menschenbild zwischen Schrulligkeit und Melancholie, inspiriert von Italo Calvinos Prosaskizzen „Die unsichtbaren Städte“. In Venedig wurde sein zirkulierendes Roadmovie, das derzeit auch im Wiener Votivkino läuft, mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, der Preis ging damit zum ersten Mal an eine dokumentarische Arbeit.

Wie die Käferlarven rufen

„Sacro GRA“ besteht aus Passagen des Abseits – des Abseits der Stadt, der Gesellschaft, der Normalität. Er porträtiert Menschen und Orte, an denen man für gewöhnlich vorbeifahren würde, ohne sich nach ihnen umzudrehen. Da ist etwa der Botaniker, der sich obsessiv um den Palmenwuchs am Straßenrand kümmert; er spricht zärtlich von seinen geliebten Pflanzen, die geformt seien wie die Seele des Menschen. Um einer Käferplage beizukommen, bohrt er Löcher ins Holz, zeichnet mit Mikrofonen den Ruf der Larven auf. Später will er ihn mittels Digitalverzerrung als Audiowaffe bei seinem Kreuzzug gegen die Insekten einsetzen. Oder die Prostituierte, die im Wohnwagen auf dem Pannenstreifen zu hausen scheint: Einmal wurde sie wegen einer Anstandsverletzung festgenommen, seitdem ist sie nicht gut auf die Carabinieri zu sprechen. Beim Zigarettenwuzzeln summt sie ein wehmütiges Wiegenlied.

Aus derartigen Porträtskizzen legt der Film behutsam ein impressionistisches Mosaik, bei dem die Ränder im Mittelpunkt stehen – an Rändern kann man sich nämlich festhalten, wie die Figuren beweisen. Sie sprechen für sich und stehen für sich ein, Rosi verzichtet auf Kommentare. Ihm ist offenkundig nicht daran gelegen, sein illustres Ensemble in den Schmollwinkel mitleiderregender Sozialfälle zu schieben. Das Provisorische der Daseinsexzerpte macht es generell schwierig, präzise Urteile in Bezug auf die Porträtierten und ihre jeweiligen Lebensumstände zu treffen, es bleibt viel Raum für Spekulation und Interpretation. Bezeichnend ist hierfür eine markante Fenstertheater-Sequenz: Bei gleichbleibender Bild-im-Bild-Rahmung zappt sich die Montage durch die engen Zimmerbühnen eines Wohnhauses und serviert so eigentümliche Alltagshäppchen. Besonders in Erinnerung bleibt ein ausrangierter Adliger mit krausem Weißbart, der zum Leidwesen seiner genervten Studententochter über die alten Zeiten spintisiert.

Der in Eritrea geborene Kosmopolit Rosi hat Erfahrung mit Außenseitern. Seine bisherigen Dokus beschäftigten sich mit einem unberührbaren Ganges-Fährmann, einer Aussteigerkommune in der kalifornischen Wüste und einem ehemaligen Kartellkiller aus Mexiko. Die Sehnsucht nach dem Anderswo steht in Verwandtschaft zu Weltenbummler-Poeten des Kinos wie Viktor Kossakovsky und Michael Glawogger. In „Sacro GRA“ wendet sich Rosi erstmals Italien zu, einem Land, dessen filmische Beschäftigung mit Menschen neben der Spur sich traditionsgemäß eher im Spielfilmbereich abspielt. Doch bei aller Skurrilität seiner Sujets ist der Film von den grellbunten Kuriositätenkabinetten eines Federico Fellini meilenweit entfernt – zu elegisch der Tonfall, zu intim die Begegnungen. Dem Kreismotiv gemäß macht der Regisseur im Laufe des Films immer wieder aufs Neue Rast bei einigen seiner Protagonisten und nimmt verschiedene Aspekte ihres Lebens in den Blick, kontrastiert Arbeit und Heimstatt, Ruhe und Geschäftigkeit. Ein Rettungssanitäter, dessen aufreibende Routine „Sacro GRA“ eröffnet, ist gegen Ende beim vertraulichen Besuch seiner dementen Mutter zu sehen. Sie möchte, dass er länger bleibt, doch die Autostrada ruft, und das Leben muss fortfahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2015)

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