Cannes: Das Festival der Widersprüche

Guests walk on the red carpet as they arrive for the screening of the film 'Tale of Tales' in competition at the 68th Cannes Film Festival in Cannes
Guests walk on the red carpet as they arrive for the screening of the film 'Tale of Tales' in competition at the 68th Cannes Film Festival in Cannes(c) REUTERS
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Wie passt Sexismus zum Frauenschwerpunkt? Und kann man wie Matteo Garrone auf Englisch Italiens Kulturerbe feiern? Über neue Filme und nicht ganz so neue Probleme.

Die Widersprüche häufen sich: Während draußen an der Croisette das Defilee der mit Luxusartikeln bestückten Luxusmenschen kein Ende nimmt, läuft im Wettbewerb ein Film über Arbeitslosigkeit und den Mangel an Solidarität (sehenswert: Stéphane Brizés „La Loi du marché“ mit Vincent Lindon). Die im Vorfeld geäußerte Selfie-Kritik des Festivaldirektors Thierry Frémaux wirkt deplaziert angesichts der Adabei-Kultur, die Cannes erst zum Massenevent macht. Auch der diesjährige Aufreger – ohne geht's nicht – gründet auf Inkongruenz. Ein groß angekündigter Frauenschwerpunkt sollte wiederholte Chauvinismusvorwürfe gegen das Festival parieren, dann brachte eine Entrüstungswelle unter dem Hashtag #flatgate die Veranstalter in Verlegenheit: Ausgerechnet bei der Galapremiere zu Todd Haynes' lesbischem Melodram „Carol“ soll laut dem britischen Filmmagazin „Screen“ einer Gruppe von Damen mangels hoher Absätze der Zutritt zum Palais des Festivals verwehrt worden sein. Frémaux entschuldigte sich für „Übereifer“.

In diesen Reigen der Paradoxien reiht sich eine (auf dem parallelen Filmmarkt abgehaltene) Rede des Netflix-Abgesandten Ted Sarandos ein. Dieser verkündigte, seine Firma sei nicht „gegen Kinos, sondern für Filme“. Zuvor rührte er die Werbetrommel für direkte Onlinefilmstarts via Netflix. Diese Option sei besonders für moderat budgetierte Projekte attraktiv, die unter hohen Werbekosten leiden. Sollte sich das Modell durchsetzen, könnte das bedeuten, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der in Cannes präsentierten Filme abseits des Festivals nicht mehr auf der großen Leinwand zu sehen sein wird.

Südeuropäische Filme auf Englisch

Als Widerspruch (oder Ausverkauf) könnte man es auch deuten, wenn mittel- und südeuropäische Regisseure Filme auf Englisch vorlegen. In Cannes laufen vier Beispiele im Wettbewerb, der Umstand spiegelt aber in erster Linie die Globalisierung von Filmkultur und -industrie wider. Obwohl die Qualität der englischsprachigen Arbeiten schwankt, ist keiner der Filmemacher stilistische Kompromisse eingegangen. Den Anfang machte Matteo Garrone, dessen „Tale of Tales“ Geschichten aus „Il Pentamerone“, einem Märchenkompendium des Neapolitaners Giambattista Basile (1575–1632), zu einer barocken Tapisserie des Fantastischen verwebt.

Hier stellt sich am ehesten die Frage, was der Sprachwechsel soll. Gedreht wurde in Apulien mit Schlössern und malerischen Grotten als Kulissen, der prunkvoll ausgestattete Film scheint „Kulturerbe“ zu rufen. Die hochkarätige Besetzung (Salma Hayek, Vincent Cassel und John C. Reilly) stakst ungelenk durch gestelzte Dialoge, nur Toby Jones als König mit großem Floh berührt in seiner Rolle. Allerdings belässt der in jeder Hinsicht künstliche Film den Fabeln ihre Ambiguität und Brutalität – die Guten aus einem Erzählstrang sind die Bösen im nächsten.

Garrones Landsmann Paolo Sorrentino liefert mit „Youth“ eine Variation seines großen Erfolgs „La Grande Bellezza“, Michael Caine ersetzt dessen Stammschauspieler Toni Servillo. Als emeritierter Komponist spaziert er an der Seite eines Freundes und Filmregisseurs (Harvey Keitel) durch einen Schweizer Alpenkurort und schwadroniert wehmütig über Prostataprobleme und den Verlust seiner Jugend, die Inszenierung schwelgt in Opulenz.

Interessanter ist der Wettbewerbsbeitrag des Norwegers Joachim Trier: „Louder than Bombs“ nimmt eine Familie unter die Lupe, die nach dem Tod der Mutter (Isabelle Huppert, als entrückte Kriegsfotografin in Rückblenden zu bewundern) in die Krise gerät. Geheimnisse und ihre Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen sind das große Motiv des Films, der sich aber allerlei Abschweifungen erlaubt und mit beiläufigen Beobachtungen und prägnanten Randnotizen besticht, ohne die Psychologie seiner Figuren (darunter Jesse Eisenberg und Newcomer Devin Druid als verkorkstes Brüderpaar) übertrieben auszuwalzen. Ein trotz des konstruierten Finales erwachsenes Drama in der Tradition von Ang Lees „Eissturm“, das gerade im feinfühligen Umgang mit seinen vorwiegend englischsprachigen Schauspielern erstaunliche Reife beweist.

Verstörende Parabel aus Griechenland

Der außergewöhnlichste Neustart in englischer Sprache kommt allerdings vom Griechen Giorgos Lanthimos. Dieser hat sich mit schwarzhumorigen Verfremdungen sozialer Gegebenheiten einen Namen gemacht („Dogtooth“, „Alps“). Mit „The Lobster“ entwirft er eine Welt, in der Singles geächtet werden – finden sie innerhalb einer Gnadenfrist keinen Partner, werden sie entweder in Tiere verwandelt oder zum Abschuss freigegeben. In kühlen, pointierten Einstellungen kämpft ein pummeliger Colin Farrell (dessen komödiantisches Talent oft unterschätzt wird) um sein Recht auf Liebe, die mit markanten Absurditäten gespickte Parabel verstört und bewegt gleichermaßen. Auch das ein Widerspruch, aus dem man etwas lernen kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2015)

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