Cannes: Ein mittelprächtiger Wettstreit unter Palmen

(c) REUTERS (REGIS DUVIGNAU)
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Gesellschaftliche Aktualität siegt über künstlerische Originalität: Jacques Audiards Flüchtlingsdrama "Dheepan" wurde als bester Film ausgezeichnet. Die stärksten Beiträge mussten sich mit Nebenpreisen begnügen.

Was macht einen guten Film aus – formale Risikobereitschaft oder thematische Brisanz? Die Antwort der Cannes-Jury fiel am Sonntagabend eindeutig aus: Mit der Verleihung der goldenen Palme an Jacques Audiards „Dheepan“ stellte sie gesellschaftspolitische Aktualität klar über künstlerische Originalität. Coup und Clou des französischen Flüchtlingsdramas, das fraglos einen Zeitnerv trifft, liegen in seiner Konzeption und Besetzung. Überwiegend auf Tamil gedreht, folgt es den Integrationsversuchen des titelgebenden Ex-Freiheitskämpfers aus Sri Lanka (gespielt vom Autor und Aktivisten Jesuthasan Antonythasan). Dieser landet mit gefälschter Familie als Hausmeister in einer Pariser Banlieue und wird dort aufs Neue mit Gewalt konfrontiert. Was als stellenweise berührender Einblick in die (Über-)Lebensweisen von Migranten beginnt, endet mit einem überzogenen Actionfinale, das man als Umkehrung des Opferschemas deuten kann – im Grunde ist es bloß eine logische Konsequenz der Sozialthesen-Dramaturgie des Films, die seinen Authentizitätsgesten konstant in die Quere kommt.

Eine Regietrophäe als Alibi

„Dheepan“ war vorab kein wirklicher Favorit, aber kraft seines Inhalts die sicherste Wette in einem insgesamt eher mittelprächtigen Palmenturnier, dessen stärkste Beiträge sich an den verdienten Nebenpreisen ablesen lassen. Der streitbare Auschwitz-Höllentrip „Son of Saul“ des Ungarn László Nemes beeindruckte mit intensiven Plansequenzen und erhielt dafür den Grand Prix, die surreale Einsamkeitsparabel „The Lobster“ von Yorgos Lanthimos erntete den Jurypreis, Michel Francos unterkühltes, aber strukturell spannendes Krankenpflegedrama „Chronic“ wurde für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Dass der taiwanesische Meisterregisseur Hou Hsiao-Hsien ebenfalls nicht leer ausgehen würde, war zu erwarten, doch die Regietrophäe wirkt wie ein Alibi: Seinen hochkomplexen und atemberaubend schönen Historienfilm „The Assassin“ konnte man schwer übergehen, allerdings stieß die unbeugsame Eigenwilligkeit von Hous Stilistik (gedämpftes Tempo, Erzählung über Bildtexturen, Antidramatik) viele vor den Kopf, es war der einzige Avantgardefilm der Konkurrenz.

Dass formaler Wagemut eher Nebenschienensache ist, gehört zur Tradition des Festivals. Heuer fiel dieser Umstand besonders ins Auge: Während sich die zu großen Teilen von französischen Weltvertrieben bestückte Hauptsektion mit bleischweren Prestigeproduktionen („Macbeth“) und starträchtigen Divertissements (die Huppert-Depardieu-Doppelconférence „Valley of Love“) aufhielt, wurden etablierte Weltkinogrößen auf den „Un Certain Regard“-Rang verwiesen. Dort verfeinerte der einstige Palmengewinner Apichatpong Weerasethakul in „Cemetery of Splendour“ seinen magischen Realismus, und der Rumäne Corneliu Porumboiu schickte die Hauptfiguren seiner täuschend einfachen Komödie „The Treasure“ mit einem jaulenden Metalldetektor auf Schatzsuche.

Der kalkulierte Mitternachtsskandalfilm dieses Jahres, Gaspar Noés zärtlich-doofer 3-D-Porno „Love“, fiel bei der Kritik sang- und klanglos durch, die erotische Alternative aus Österreich fand indessen eine lobende Erwähnung bei der Preisverleihung der unabhängigen Parallelsektion „Quinzaine des Réalisateurs“: Mit dem feuchten Traumtanz „The Exquisite Corpus“ hat der Avantgardist Peter Tscherkassky aus dispersem Found-Footage-Material einen ebenso fordernden wie unterhaltsamen Ritt durch die Tiefenschichten des Begehrens gezimmert.

Regisseur Miike im Geishakostüm

Der Quinzaine verdankte man überdies den heitersten Festivalmoment: Bei der Sondervorführung von Takashi Miikes irrwitzigem „Yakuza Apocalypse“ (mit einem Mann im Froschkostüm als Bösewicht) lieferte der Kampfkünstler Yayan Ruhian eine Spontandemonstration seiner Fähigkeiten, danach vermeldete der Regisseur per Videobotschaft im Geishakostüm, er würde fortan nur noch Filme über Liebe und Freundschaft drehen. Solch befreienden Unernst findet man in Cannes nur an den Rändern, ebenso wie wirklich autonome Filmkunst: Im experimentellen Triptychon „Arabian Nights“ sammelt Miguel Gomes die Wirklichkeiten und Fantasien eines ökonomisch gebeutelten Portugals, und der litauische Solitär Šarūnas Bartas sucht in „Peace to Us in Our Dreams“ unerbittlich nach der Wahrheit in den Gesichtern seiner Mitmenschen. Solange solche Werke noch Zutritt zum Cannes-Universum haben, ist noch nicht aller Tage Abend.

PREISE IN CANNES

Die Palme d'Or des 68. Festival de Cannes ging an das Flüchtlingsdrama „Dheepan“ von Jacques Audiard, die KZ-Höllenfahrt „Son of Saul“ des Ungarn László Nemes erhielt den großen Preis der Jury. Vincent Lindons nuancierte Performance als Langzeitarbeitsloser in „La loi du marché“ bescherte ihm eine Schauspielehrung, der Darstellerinnenpreis ging ex aequo an Rooney Mara

(„Carol“) und Emmanuelle Bercot („Mon roi“).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2015)

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