Wiener Festwochen: Ein SOS vom Homo sapiens

Wiener Festwochen
Wiener Festwochen(c) Wiener Festwochen/ Guido Mencari Photographer
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Gewaltige Bilder verknüpfen in Castelluccis „Go down, Moses“ den biblischen Mythos mit dem menschlichen Schicksal und der Rolle der Kunst, von der Urzeit bis heute.

Er hat den Mythos von Orpheus und Eurydike als Geschichte zwischen einem liebenden Mann und einer Frau im Wachkoma erzählt. Er hat einen Sohn gezeigt, der seinen alten, inkontinenten Vater versorgt, in Szenen voller Fäkalien und Urin, und das alles unter einem Christusbild... Der bildmächtige italienische Regisseur Romeo Castellucci ist nicht das erste Mal bei den Wiener Festwochen zu Gast. Und in seiner neuen Produktion, „Go down, Moses“, die am Mittwoch im Theater an der Wien Premiere hatte, steht wieder ein Mensch am Rand der Gesellschaft im Mittelpunkt, den ein extremes Schicksal ereilt. Es ist die Mutter von Moses, die auf der Toilette eines Lokals blutend und unter Schmerzen allein ein Kind zur Welt bringt. Moses wird im Stück nie zu sehen sein, nur zu hören – eingesperrt in einen Sack in einer Mülltonne.

„Go down, Moses“ – dieses Spiritual sangen schon Sklaven in den USA, für Afroamerikaner repräsentierte Moses den Befreier, der sie aus der Sklaverei führt. Auch die Mutter in Castelluccis Stück bringt das größte denkbare Opfer, nämlich ihr Kind auszusetzen, weil sie glaubt, einem (göttlichen?) Auftrag zu folgen. Alle warten, auch die Tiere, sagt die blutverschmierte junge Frau dem Kommissar, der wissen will, wo das Kind ist. Worauf? „Auf das, was zählt.“ Den „neuen Bund“, die Befreiung des „Volks“ aus der Sklaverei. Die Leute wissen nicht, dass sie ein Volk sind, sagt sie, weil sie noch nicht begriffen haben, dass sie versklavt sind.

Warten auf Moses, wie auf Godot

Wer nun Gesellschaftskritik von diesem Stück erwartet, das den Titel eines sozial brisanten Spirituals trägt, zeitweise in einer heutigen Szenerie von Kindsaussetzung und Sklaverei erzählt und gegen Ende einen frühen Homo sapiens die drei Buchstaben „SOS“ auf den Gazevorhang zwischen Zuschauerraum und Bühne schreiben lässt, wird sicher enttäuscht. Sogar etwas Technologie- und Zivilisationskritik kann aus den grandios wirkenden, eher an bewegte Gemälde als Theater erinnernden Szenen gelesen werden – etwa wenn eine riesige, sich immer rasanter drehende und schmerzhaft laute Walze herabschwebende Perückenhaare aufspinnt, wie eine Spindel, mit der die antiken Schicksalsgöttinnen die Schicksalsfäden der Menschen spannen. Aber genau dieses Bild zeigt auch, worum es in „Go down, Moses“ eigentlich geht: um mythische, ahistorische Urbilder zur conditio humana. Alle, vom Urmenschen bis zu den Menschen, sind hier ausgeliefert mit Haut und Haar (Haare sind nicht nur in der Bibel ein Symbol der Stärke, ihr Verlust bedeutet Unterwerfung); das verbindet sie (mit dem Zuschauer). Alle warten hier auf einen erlösenden Moses (den Einzigen, der Gott gesehen hat), ein bisschen wie auf Godot.

Nur dass hier keine öde Stille herrscht wie bei Beckett, sondern meist ein Brausen und Sausen, das den Ohren des Zuschauers einiges zumutet (mit einiger Aufmerksamkeit kann man dazwischen etwas wie leisen Engelsgesang heraushören) – und offensichtlich auch zumuten, sich seiner bemächtigen soll. Bedrohliches kosmisches Dröhnen ist das, nicht so, wie Pythagoras sich die Musik der Welt vorstellte, aber passend zum Gott des Moses, zur Wucht des Alten Testaments.

Vor allem aber beeindruckt „Go down, Moses“ durch die Wucht der Bilder. Castellucci kommt von der bildenden Kunst; die Höhlenszene etwa, in der eine Urfrau ihr Kind begräbt, bevor ein neuer Zeugungsakt neues Leben vorbereitet und eine Urfrau die Kunst erfindet (Handabdrücke auf dem Gazevorhang wie Botschaften, Hilferufe an die Nachwelt), erinnert mit ihrer raffinierten Lichtgebung an große barocke Meister. Immer wieder sieht der Hintergrund aus wie der Himmel auf Kirchenfresken – ein dunkel-bedrohliches Gewölk freilich, in dem sich die lichte göttliche Strahlung nur erahnen lässt.

Will man Castelluccis Bilder in Worte fassen, wird es leicht platt. Als Bilder wirken sie mächtig, selbst wenn manchen die pathetische mythisch-metaphysische Aufladung wohl Unbehagen bereitet. „Go down, Moses“ führt den Zuschauer von zwei zeitgenössischen Handlungen – dem Treiben eleganter Besucher auf einer Ausstellung mit einem einzigen Gemälde, nämlich Dürers „Hasen“, sowie dem Martyrium der jungen Frau, die ihr Baby Moses in eine Mülltonne steckt – zurück in die Urzeit. Rätselhaft wirkt das alles, es gibt auch nicht einen Schlüssel dafür; aber eine dichte Symbolik gibt es zu entdecken, die die Einzelbilder zusammenwirkt, wie Geburtskanal und Urzeithöhle, oder alttestamentarisches Bilderverbot, modernen Kunstgenuss und die Bildgebungsverfahren der modernen Medizin. Es lohnte sich, „Go down, Moses“ mehr als einmal anzusehen.

Theater an der Wien, noch bis 30. Mai.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2015)

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