Filmmuseum: „Das ist der Blues des Kinos“

(c) Österreichisches Filmmuseum
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Tiefschwarze Nächte und seelische Abgründe: „Noir/Polar“, eine Retrospektive des französischen Kriminalfilms von 1930 bis 1960. Bis 15. Oktober.

Marcel Carnés Klassiker „Le jour se lève“ beginnt mit der Einblendung einer markanten Präambel: „Ein Mann hat getötet. In seinem Zimmer eingeschlossen und belagert besinnt er sich der Umstände, die ihn zum Mörder gemacht haben.“ Der in diesem Vorwort verdichtete Komplex aus Verbrechen, Schuld, Geschichte und Gesellschaft ist emblematisch für eine finster-fatalistische Ader französischer Kunst im historischen Umkreis des Zweiten Weltkriegs, deren dunkles Blut besonders durch populäre Formen von Kino und Literatur zirkulierte. Carnés Film wird der sozial bewussten Strömung des poetischen Realismus zugeordnet, aber ebenso gut könnte man ihn dem rückwirkend geprägten Schirmbegriff „Polar“ unterstellen – ein verkürzter Kosename für den „Roman policier“.

Dieser war (im Unterschied etwa zum britischen Detektivroman) weniger am Wirken der Exekutive und ihren ausführenden Organen interessiert als an den Niederungen und Bewohnern urbaner Unterwelten, weniger an der Auflösung von Kriminalfällen als an ihren Ursachen und den beschädigten Menschen dahinter. Auch das französische Kino stürzte sich furchtlos in tiefschwarze Nächte und seelische Abgründe, als es sich des Genres annahm. Im Österreichischen Filmmuseum lässt sich die 30-jährige Blütezeit dieser Leinwandblumen des Bösen noch bis 15. Oktober in der schönen Schau „Noir/Polar“ erkunden.

Seit den Anfängen des Tonfilms entstand in Frankreich eine Vielzahl von Werken, die sich das Polar-Universum aus verschiedenen künstlerischen (und kommerziellen) Perspektiven zu eigen machten. Viele davon basieren auf Büchern renommierter Autoren, die belgische Krimilegende George Simenon und sein Kommissar Maigret standen immer wieder Pate. Die erste Maigret-Verfilmung stammt von Jean Renoir: Seine nebelverhangene (und nur unvollständig erhaltene) „Nacht an der Kreuzung“ schwelgt buchstäblich im Zwielicht, das ländliche Drogenbanden-Komplott ist nur ein Vorwand für gespenstische Kinodämmerung.

Simone Signoret als Animiermädchen

Renoir ist einer der bekanntesten Regisseure im Programm, entdecken lassen sich aber auch einige hierzulande fast unbekannte Handwerker, wie Henri Decoin und Yves Allégret. In Allégrets neorealistisch angehauchtem Halbweltmelodram „Dédée d'Anvers“ lässt seine damalige Ehefrau Simone Signoret als Animiermädchen in Antwerpen ihren Zuhälter überfahren – der Film machte sie zum Star. Signoret war eine von einigen Schauspielgrößen, deren Image sich aus den Schatten dieser Filme schälte. Neben Jean Gabin – sein trister, aber stolzer Blick ein Inbegriff proto-existenzialistischer Lässigkeit – zementierte auch Michel Simon seinen Ruf mit nuancierten Darstellungen gepeinigter Kleinbürger in Werken wie Renoirs „La Chienne“, Julien Duviviers Simenon-Adaption „Panique“ oder Henri Decoins vernichtendem Psychogramm „Non coupable“. Darin spielt Simon einen gescheiterten Arzt, der im perfekten Verbrechen seine Berufung findet – doch niemand kauft ihm seine Taten ab, und am Ende kehrt ihm sogar sein schwarzer Hauskater den Rücken zu.

Protokoll eines Gefängnisausbruchs

Die durchdringende Düsternis und teils niederschmetternd nihilistische Weltsicht der gezeigten Arbeiten spiegelt die Verwerfungen und Gewissenskrisen ihrer jeweiligen Entstehungszeit wider: In den 1930ern war es das Scheitern der Front populaire, später die Demütigungen der Besatzungszeit und die Nachwehen der Kollaboration. Noch 1960 machte sich Jacques Beckers letzter, in herber Klarheit strahlender Film „Le trou“ – das hoch spannende Protokoll eines Gefängnisausbruchs – keine Illusionen: Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels.

Die Nouvelle Vague, deren junge Wilde bereits um die Ecke lauerten, sagte daher dem Tunnel selbst den Kampf an. Obwohl ihre Vertreter eine Zäsur im französischen Kino markieren wollten – ihre Regie-Helden kamen aus Hollywood – führten sie die Tradition der schwarzen Welle auf ihre Weise weiter; man denke an „Fahrstuhl zum Schafott“ oder die Thriller Claude Chabrols. Die kalte Melancholie der Jahre davor war allerdings einem anderen, hitzigen Tonfall gewichen. Alain Corneau, dessen Frühwerk voraussichtlich in der für Herbst 2016 angesetzten Fortsetzung der Retrospektive präsentiert wird, hat es einmal schön auf den Punkt gebracht: „Der Polar, das ist der Blues des Kinos.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2015)

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