"Anomalisa": Ein Puppenspiel für Erwachsene

(c) Paramount Pictures
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Regisseur und Drehbuchautor Charlie Kaufman schuf mit "Anomalisa" einen wunderbar berührenden Stopptrickfilm über zwei Außenseiter in einer monotonen Welt. Eine Liebesgeschichte voller Ausdruckskraft und Freude am Detail.

Während des Abspanns von Charlie Kaufmans letztem Spielfilm läuft ein melancholisches Lounge-Jazz-Liedchen, und dessen erste Strophe lautet wie folgt: „I'm just a little person, one person in a sea/Of many little people who are not aware of me/I do my little job and live my little life/Eat my little meals, miss my little kid and wife/And somewhere, maybe someday/Maybe somewhere far away/I'll find a second little person/Who will look at me and say/I know you, you're the one I've waited for“. Man verzeihe das lange Zitat – es ist von Interesse, weil der von Kaufman selbst verfasste Text im Kern die inhaltliche und atmosphärische Blaupause für sein jüngstes Werk, „Anomalisa“, enthält.

Dass nebensächliche Details neue Welten gebären, ist typisch für Kaufman, den David Foster Wallace unter Hollywoods Drehbuchautoren. Größere Bekanntheit erlangte der inzwischen 57-Jährige mit verschachtelten Vorlagen für absurde Tragikomödien wie „Being John Malkovich“ und „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“. Seine erste Regiearbeit, „Synecdoche, New York“, handelte von einem monomanischen Theatermacher, der vergeblich versucht, das Wimmelbild des Daseins ungekürzt und maßstabsgetreu auf die Bühne zu bringen. Im Vergleich zur ausufernden Selbstbezüglichkeit von „Synecdoche“ wirkt „Anomalisa“, Kaufmans erste Kinoarbeit seit sieben Jahren, wie ein unscheinbares, schnörkelloses Dramolett. Tiefe lässt es trotzdem nicht vermissen, im Gegenteil: Gerade in seiner Schlichtheit zählt es zum Berührendsten, was er je geschaffen hat. Vielleicht liegt die Ambitionsdrosselung auch am aufwendigen Format: „Anomalisa“ ist ein Stopptrickfilm.

Gleiche Stimmen, gleiche Gesichter

Erzählt wird aus der Perspektive von Michael Stone (David Thewlis), einem erfolgreichen Verfasser von Kundendienst-Ratgebern auf Vortragsreisen-Zwischenstopp in Cincinnati. Der angegraute Mittfünfziger ist zutiefst unglücklich, mit Sorgenfalten auf der Stirn und Zigaretten im Anschlag. Die Monotonie seiner Alltagsroutine wurde irgendwann zum Bleichmittel seiner Wahrnehmung. Alles ödet ihn an, alles ist einerlei, im wahrsten Sinne des Wortes: Nicht nur die Stimmen, auch die Gesichter seiner Mitmenschen wirken völlig austauschbar, eine gleichförmige Masse ausdrucksloser Masken, so unpersönlich wie Michaels Zimmer im Luxushotel Fregoli (eine Anspielung auf das psychiatrische Syndrom, dem die Hauptfigur anheimgefallen scheint). Selbst das Blumenduett aus der Oper „Lakmé“ dudelt auf dem iPod im Leiertonfall eines Einheitsorgans (Charakterdarsteller Tom Noonan). Doch dann hört Michael zufällig jemanden auf dem Gang, der anders klingt: Das schüchterne Mauerblümchen Lisa (Jennifer Jason Leigh), die sich als Fan seiner Bücher herausstellt. Endlich eine Chance, aus dem Solipsismuskerker auszubrechen!

Das kleine Abenteuer, auf das sich die zwei Außenseiter einlassen, zeichnen Kaufman und sein Ko-Regisseur Duke Johnson (bekannt für Stopptrick-Comedyserien wie „Moral Orel“) mit enormer Liebe zum nicht immer schmeichelhaften Detail. Die Animationstechnik ermöglicht im Verbund mit akribischem Tondesign einen ungeahnten Hyperrealismus: Neurotische Ticks und verräterische Mikrogesten verleihen den (auch nackt) verhältnismäßig lebensnahen, von den Sprechern kongenial beseelten Puppenkörpern und -gesichtern große Ausdruckskraft – Letztere stammen aus dem 3-D-Drucker und sind menschlichen Vorbildern nachempfunden. Unterdessen strahlen die handgemachten Kulissen, passend zur Motivik des Films, gleichermaßen Künstlichkeit und Zerbrechlichkeit aus. Kulmination des sozialen Eiertanzes zwischen Lisa und Michael bildet eine linkische, aber darob nicht weniger zärtliche Sexszene, die ohne Übertreibung zu den besten und glaubwürdigsten des jüngeren US-Kinos gehört. Michaels Fetischisierung von Lisas Stimme verweist dabei auf den Ursprung des Films: „Anomalisa“ wurde schon 2005 als Dreipersonen-Bühnenhörspiel konzipiert und uraufgeführt.

Ganz ohne Metakommentar kommt auch dieses Kaufman-Stück nicht aus: In einer kafkaesken Traumsequenz bricht sich Michaels Angst vor der eigenen Marionettenhaftigkeit Bahn. Aber dabei bleibt es, und das Ende des kompakten 90-Minüters ist gänzlich undramatisch. Nur eine überraschende Perspektivenverlagerung in letzter Minute deutet an, was die Moral dieser bittersüßen Liebesgeschichte sein könnte: Wirklich wichtig ist letztlich der Blick des anderen.

Finanzierung via Crowdfunding

Den Vertrieb von „Anomalisa“ besorgt Paramount, doch die Grundfinanzierung deckten die Filmemacher mithilfe der Crowdfunding-Plattform Kickstarter, um ihre kreative Unabhängigkeit zu wahren. In Venedig gewann das Puppenspiel für Erwachsene als erster Trickfilm überhaupt den Großen Preis der Jury, vergangenen Donnerstag wurde er für einen Oscar in der Kategorie bester Animationsfilm nominiert. Auch wenn sein Sieg unwahrscheinlich ist (die Pixar-Konkurrenz ist groß), wäre er wünschenswert, denn handgemachte Kinopreziosen dieser Art sind schon längst Anomalien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2016)

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