Diagonale in Graz: Dichterliebe, Roma - und der Stammtisch

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Ruth Beckermann erhielt den Großen Preis für ihre Dokumentation über den Briefwechsel von Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Unter neuer Leitung bleibt Österreichs Filmfestival vorerst beim bewährten Erfolgskonzept.

Alles neu beim Festival des österreichischen Films? Seit der Vergabe der Diagonale-Intendanz an die ehemaligen Youki-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber warteten viele gespannt auf die erste Festivalausgabe unter frischer, junger Leitung. Am Sonntag endete die heurige Edition, und alles in allem kann man eher von einem fliegenden Wechsel als von einer Zäsur sprechen. Die Diagonale-Leiter haben die Veranstaltung in gutem Zustand von ihrer Vorgängerin, Barbara Pichler, übernommen und davon abgesehen, allzu viel am Erfolgskonzept herumzuschrauben.

Stattdessen setzten sie auf kleinere Nachjustierungen, die bei Stammgästen für Gesprächsstoff sorgten, ohne Branche oder Publikum vor den Kopf zu stoßen. Neben der Aufpolierung der Markenidentität und verstärkter Social-Media-Präsenz ist wohl die Verlagerung der zentralen Partystätte am auffälligsten: ins Parterre des Grazer Hauses der Architektur, wo man zu nächtlichen Stoßzeiten mangels Ellbogenfreiheit gar nicht anders konnte, als sich zu vernetzen.

In ihrer Eröffnungsrede bekannten sich die beiden Direktoren u. a. zu Diversität und Gleichberechtigung. Das spiegelte sich im Programm und in den Rahmenveranstaltungen wider, etwa Branchentreffs, Gesprächsrunden und Workshops zum Thema – aber auch im Eröffnungsfilm, Mirjam Ungers „Maikäfer flieg“, dessen Produktionsteam mit einem ungewöhnlich hohen Frauenanteil aufwarten konnte. Leider ändert das nichts an seiner Qualität: Mit seiner Allerweltsfernsehästhetik gehört die wenig inspirierte Nöstlinger-Adaption nicht gerade zu den mutigsten Diagonale-Einstiegswerken.

„Winwin“ mit diabolischer Höflichkeit

Zum Glück lieferte das vielfältige Festivalprogramm genügend Beispiele für die Offenheit der neuen Kuratoren gegenüber ambitionierteren Kinoentwürfen. Ein Beispiel wäre „Loz Feliz“ von Edgar Honetschläger: Darin tuckert eine junge Glücksjägerin in einem alten Mercedes die Straße des Lebens entlang, mit einer japanischen Göttin und Luzifer höchstpersönlich im Schlepptau, während östliche und westliche Glaubens- und Wertesysteme um die Kulissen konkurrieren – Honetschlägers Roadmovie wurde nämlich überwiegend im Studio gedreht. Seine eigenen Gemälde dienen als zweidimensionaler Rollbildhintergrund, das Auto steht still – Einfälle wie diese machen seine pikareske Parabel nicht nur im Diagonale-Kontext zum Unikum.

Ähnlich stilisiert verfährt auch Daniel Hoesl in seinem Zweitling, „Winwin“, im Unterschied zu Honetschlägers metaphysischer Farce liefert er aber eher eine Realsatire. Vier Investoren gerieren sich als Bauernfänger in großem Stil: Mit Lockfloskeln und diabolischer Höflichkeit (der Film basiert auf Recherchen) verleiten sie österreichische Entscheidungsträger und Meinungsmacher zum eilfertigen Kniefall vor dem Kapital, das sich als heiße Luft erweist. „Winwin“ punktet mit konzentriertem Stilwillen, pointierten Einstellungen und bissigem Humor – in seiner Kompaktheit und Prägnanz zeigt der Film einen wesentlichen Fortschritt gegenüber Hoesls Debüt, „Soldate Jeannette“.

Am anderen Ende des ästhetischen Spektrums findet sich „Jeder, der fällt, hat Flügel“ von Peter Brunner. Ein asthmakrankes Mädchen besucht seine Großmutter. Bald beginnen die Zeit- und Realitätsebenen zu verschwimmen: Die Arbeit ist das bewegende Porträt eines Abschieds voller schwebender, sinnlicher Traum- und Berührungsbilder, irgendwo zwischen Tarkowski, Bergman und poetischem Realismus.

Rückblick auf die Waldheim-Jahre

Die Hauptpreise des Festivals gingen indes an Dokumentarfilme: Ruth Beckermanns Spielfilmsieger „Die Geträumten“, die Kinoaktualisierung einer Korrespondenz zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, kann man durchaus als Dokumentation der Gesichtsregungen der beiden Schauspieler-Sprecher bezeichnen. Die Doku-Trophäe erntete Sigmund Steiners geruhsames Bauernporträt „Holz Erde Fleisch“. Sperriger, aber spannender ist „Brüder der Nacht“ von Patric Chiha: Der Film setzt bulgarische Roma ins Bild, die sich in Wien als Stricher verdingen. Statt von oben herab Sozialkritik zu predigen, bietet Chiha diesen Menschen einen Bühne zur Selbstinszenierung, lässt sie im schummrigen Rotlicht (Wunsch-)Identitäten ausagieren, in Lederjacken und Matrosenhemden streiten und zärtlich sein – eine spielerische Milieustudie, die von Herzen und über die Lüge zur Wahrheit kommt. Auch unter den Kurzdokus gab es Interessantes zu entdecken: Wer wusste, dass sich Filme über Maria Lassnig und einen Linzer Skater so schön ergänzen können?

Eine Programmerweiterung der Diagonale betraf die Retrospektiven, die das Österreichische Filmmuseum und das Filmarchiv Austria erstmals unter einem thematischen Dach vereinten. Unter dem Titel „Österreich: Zum Vergessen“ wird an die Waldheim-Jahre erinnert, etwa mit einer „Alltagsgeschichte“ über dubiose Ansichten an heimischen Stammtischen. Der Film verschwand damals im ORF-Giftschrank und hätte Elizabeth T. Spira fast den Job gekostet. Hier beweisen die Intendanten historisches Bewusstsein. Bleibt zu hoffen, dass sie in den kommenden Jahren – ihr Vertrag läuft bis 2019 – ein originäres Festivalprofil modellieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2016)

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