„Son of Saul“: Reise durch die KZ-Höllenkreise

Son of Saul
Son of Saul(c) Thimfilm
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László Nemes' Film beeindruckt durch enorme konzeptuelle und ästhetische Resolutheit – und fordert von seinem Publikum eine Positionierung.

Die Darstellung des Holocaust im Film ist und bleibt umstritten. Das singuläre Menschheitsverbrechen verlangt nach Bildern, die sich gegen das Vergessen stemmen. Zugleich widerstrebt seine schiere Unfassbarkeit jeder Bebilderung, die zwangsläufig vereinfachen muss. Diese Polarität klammert das Feld, auf dem sich filmische Annäherungen an den Holocaust verteilen.

Einen Eckpunkt bildet Claude Lanzmanns „Shoah“: Die neunstündige Dokumentation verzichtet völlig auf Archivmaterial, beschränkt sich auf Interviews und Ortsbegehungen und postuliert damit das Primat der mündlichen Zeugenschaft. Lanzmann selbst gehört zu den prominentesten Wortführern des Bilder- und Fiktionsverbots. Am anderen Ende des Spektrums steht das Genre des Holocaust-Spielfilms, institutionalisiert durch Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993) und seither um unzählige Einträge ergänzt. Dieses Genre hat seine eigenen Konventionen, Verheißungen und Leerstellen. Mit „Son of Saul“ (Original: „Saul fia“) von László Nemes läuft nun ein Film in den heimischen Kinos an, der in Sachen Holocaust-Kino neue Maßstäbe setzt – mit allen Problematiken, die diese Formulierung impliziert. „Son of Saul“ spielt im Oktober 1944 in Auschwitz-Birkenau und wirft den Zuschauer mitten ins schwarze Herz der NS-Vernichtungsindustrie. Die Kamera klammert sich fast die gesamte Zeit über an eine Figur: Der ungarische Jude Saul Ausländer ist Zwangsarbeiter im Sonderkommando – jener Abteilung von Häftlingen, die Deportierte in die Gaskammern führen und nach ihrer Ermordung die Leichen plündern und verbrennen mussten, im sicheren Wissen, selbst dem Tod geweiht zu sein, und „nicht einmal mehr das Bewusstsein ihrer Unschuld“ konnte ihnen als Erleichterung dienen, wie Primo Levi schrieb.

Der Wunsch nach einem Begräbnis

Im Zuge seines schrecklichen Tagwerks glaubt Saul in einem toten Kind seinen Sohn zu erkennen und ist fortan besessen von dem Gedanken, dem Knaben ein angemessenes jüdisches Begräbnis zu gewähren. Der Film folgt diesem fieberhaften, scheinbar sinnlosen und selbstsüchtigen Unterfangen, das durch sämtliche KZ-Höllenkreise führt und den Protagonisten, eine Art heiligen Narren, in historisch verbriefte Ereignisse verwickelt. Um einen willigen Rabbi zu finden, zieht Saul alle verfügbaren Register: Er hilft einem Mithäftling, heimlich den Vernichtungsprozess zu fotografieren, schmuggelt Sprengstoff für internen Widerstand und beteiligt sich schließlich an einem Lageraufstand.

Als Langfilmdebüt (Nemes drehte zuvor Kurzfilme und war Assistent für Béla Tarr) beeindruckt „Son of Saul“ mit enormer konzeptueller und ästhetischer Resolutheit. Nemes und Koautorin Clara Royer haben minuziös recherchiert, um ihre umfassende Darstellung des Lageralltags mit seinen Regeln, Routinen und Sprachverwirrungen gegen den Vorwurf spekulativen Reenactments abzusichern. Anstelle eines multiperspektivischen Überblicks schraubt sich der Film in die Subjektivität seiner Hauptfigur. Die notgedrungene Abgestumpftheit seines Tunnelblicks äußert sich im 4:3-Bildformat und einer kontinuierlichen Unschärfe des Hintergrunds. In virtuosen, atemlosen Plansequenzen hetzen wir an seiner Seite durch die Albtraumwelt, wie auf einem Fluss ohne Ufer. Das Grauen belagert die Wahrnehmung als Andeutung, insbesondere über die konstante, infernalische Kakofonie auf der Tonspur. Zudem verzichten die Filmemacher auf Psychologisierung: Saul (eindringlich verkörpert vom Dichter und ehemaligen Lehrer Géza Röhrig) ist eine undurchschaubare Präsenz, getrieben von einem göttlichen Auftrag – sein Antlitz bleibt stets eine steinerne Maske der Entschlossenheit, nur sporadisch durchzuckt von kaum lesbaren Regungen.

Die Wucht dieser Tour de Force brachte Nemes den Großen Preis der Jury in Cannes, den Auslands-Oscar und sogar den Segen von Claude Lanzmann ein. Dennoch ist „Son of Saul“ in seiner durchdringenden Intensität – statt auf klassische Dramaturgie setzt er auf einen sprunghaften Handlungs-Staffellauf und permanente sensorische Anspannung, die bewusst eher erschöpft als unterhält – ein, man kann es nicht anders sagen, Auschwitz-Erlebnisfilm. Seine Strategie zielt, das hat Nemes auch in Interviews bestätigt, ungeachtet aller ästhetischen Diskretion auf die Spürbarmachung einer Todeslager-Erfahrung ab, die weder das Kino noch irgendein anderes Medium zu vermitteln imstande ist. Am Ende der fragwürdigen Erfahrungssimulation steht eine moralische Pointe, die von konventionelleren Holocaustkino-Entwürfen à la Spielberg nicht so weit entfernt ist.

Trotzdem: „Son of Saul“ hebt sich in seinem Anspruch wie auch in seiner Machart ausreichend ab von allem, was sein Genre in die Beliebigkeit geführt hat. Er fordert vom Zuschauer eine Auseinandersetzung, eine Positionierung – bei Weitem keine Selbstverständlichkeit im zeitgenössischen Kino.


Tipp: Das vor Kurzem im Böhlau Verlag erschienene Buch „Aufstand in Auschwitz“ von Gideon Greif und Itmar Levin behandelt den im Film gezeigten Lageraufstand. Greif hat Nemes bei der Arbeit an „Son of Saul“ beraten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)

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