„Tangerine“: Drama auf dem Straßenstrich von Los Angeles

Tangerine
Tangerine(c) Augusta Quirk
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„Tangerine“, ein rastloser, erfrischender Indie-Film über Transgender-Prostituierte im unglamouröseren Teil Hollywoods, wurde mit einem Smartphone gedreht. Derzeit läuft er im Wiener Gartenbaukino.

Hollywood ganz unglamourös und der 24. Dezember ganz unweihnachtlich: Wo der Straßenlärm nie verstummt, reihen sich Waschsalons an Donut-Buden und Stripmalls an Tankstellen. Auf den Gehsteigen an der Ecke Santa Monica/Highland stehen leicht bekleidete Sexarbeiterinnen. Es ist der Transgender-Straßenstrich, auf dem der US-Filmemacher Sean Baker seinen Film „Tangerine“ ansiedelt. Und es sind zwei dieser schwarzen, Perücken schwingenden Prostituierten, denen er durch das warme Los Angeles folgt: Sin-Dee Rella ist nach vier Wochen im Gefängnis zurück auf der Straße. Ihre Freundin Alexandra erzählt ihr, dass Sin-Dees Zuhälter und Freund Chester sie während ihrer Abwesenheit betrogen hat – mit einer weiteren seiner Prostituierten, einer blonden Frau „mit echter Vagina und alles“.

Sin-Dees Rachefeldzug gegen eine Frau, deren Namen sie nur ungefähr weiß (Dinah, Dana, Desiree?), und Alexandras Versuche, sie zu beruhigen („No drama!“), geben Baker Gelegenheit zu einer rastlosen, urteilsfreien Erkundung der Lebenswelten dieser Menschen, die mit ihrem Körper, der im Übergang von Mann zu Frau steckt, Geschäfte machen. Das Drehbuch basiert auf den Lebensgeschichten der Hauptdarstellerinnen Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor, die beide als Sexarbeiterinnen tätig waren. In „Tangerine“ sind sie ständig in Bewegung: Sin-Dee (Rodriguez), impulsiv und im Herzen eine Romantikerin, redet schnell und bewegt sich stets im Laufschritt, auch als sie die blonde Affäre ihres Freundes an den Haaren durch die Straßen zerrt. Alexandra (Taylor), die Besonnenere der beiden, hetzt ihr nach, verteilt dabei Flyer für ihren Auftritt als Sängerin – ein Hinweis auf ihren Traum, aus dem Sexgeschäft auszusteigen. Ein Nebenstrang der Handlung folgt dem armenischen Taxifahrer Razmik, der die Dienste der Transgender-Prostituierten in Anspruch nimmt, bevor er zum Weihnachtsfest zu seiner Familie fährt.

Kameraschwenks mit dem Fahrrad

Die Weitwinkelästhetik und die satten Farben des Films – dominant ist das Orangerot der titelgebenden Frucht, das die Stadt bei Sonnenuntergang flutet – lassen nicht gleich vermuten, dass „Tangerine“ mit zwei iPhone-5s-Modellen gedreht wurde – eine finanzielle Entscheidung, das Produktionsbudget war mit 100.000 Dollar sehr beschränkt. Für die professionellere Anmutung sorgten eigene iPhone-Objektive und eine spezielle Kamera-App, die eine manuelle Einstellung von Belichtung und Weißabgleich erlaubt. Für Schwenkeinstellungen fuhr Baker einfach mit dem Fahrrad – eine Hand am Lenker, in der anderen das Handy – durch das Set. Die Kamera geht stets nah heran an die Protagonistinnen. Nicht nur im buchstäblichen Sinn: Die Laiendarstellerinnen Rodriguez und Taylor sind die Präsenz einer großen Kamera nicht gewöhnt, die eines Smartphones schon. Mit Handys zu drehen habe ihnen die Scheu genommen, erklärte Regisseur Baker.

„Tangerine“ ist zugleich Großstadtmärchen und Straßenstudie, Screwball-Komödie und die Geschichte einer Mädchenfreundschaft mit viel Liebe zu den Protagonistinnen. Ohne Prostitution zu trivialisieren (aber auch ohne sie moralisch zu bewerten), erzählt Baker von einsamen Figuren, die auch in trostlosen Situationen noch Hoffnung schöpfen und ihren Humor bewahren. So gesehen ist „Tangerine“ – so sehr er formelle Konventionen auch sprengt – dem Hollywoodtraum gar nicht so fern. Und eigentlich doch nicht so unweihnachtlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2016)

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