Loach holt Goldene Palme: Sozialkritik sticht Komik aus

Ken Loach mit seinem goldenen Palmwedel
Ken Loach mit seinem goldenen PalmwedelAPA/AFP/VALERY HACHE
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„I, Daniel Blake“ holte den Hauptpreis bei den Filmfestspielen von Cannes. Die wunderbare Komödie „Toni Erdmann“ ging leer aus. Mit dem Großen Preis der Jury wurde Xavier Dolans „Juste la Fin du Monde“ ausgezeichnet.

Es war die wohl denkbar konservativste Entscheidung, die die Jury unter der Leitung von „Mad Max“-Regisseur George Miller hätte treffen können: Die Goldene Palme der 69sten Filmfestspiele in Cannes ging am Sonntagabend an Ken Loachs Sozialdrama „I, Daniel Blake“. Der 80-Jährige Brite und Festival-Stammgast, der an der Côte d'Azur bereits 2006 für „The Wind That Shakes the Barley“ mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde, hatte seine Regiekarriere eigentlich schon an den Nagel gehängt, mit seinem Wettbewerbsbeitrag meldete er sich unerwartet zurück – und traf mit dem schnörkellosen Rührstück um einen alternden Tischler, dessen Versuch, Sozialhilfe zu beantragen, an den bürokratischen Blockaden eines maroden Wohlfahrtsstaates scheitert, offensichtlich einen politischen Nerv.

Bei seiner Siegerrede warnte der überzeugte Sozialist vor dem drohenden Rechtsruck Europas und pries das Kino als Widerstandsmedium gegen die Mächtigen dieser Welt. Doch bei aller Sympathie für Loachs Haltung bleibt „Blake“ ein Retortenfilm, dessen Inhaltsangabe reicht, um Ästhetik und Handlungsverlauf zu extrapolieren. Der große Favorit dieses Jahres, Maren Ades famose Vater-Tochter-Komödie „Toni Erdmann“, wäre trotz kritischem Konsens in jeder Hinsicht die mutigere Wahl gewesen – ging aber überraschenderweise völlig leer aus.

Jaclyn Jones als geschäftige Matrone

Loachs Triumph ist bezeichnend für eine Veranstaltung, deren verbissene Treue zum Qualitätskinopantheon sich zusehends als Zeichen der Stagnation erweist. Die großen Namen präsentierten heuer überwiegend Routinearbeiten. So etwa die Dardenne-Brüdern, ihres Zeichens zweifache Palmensieger: In „La fille inconnue“ schicken die Belgier eine Ärztin (stark: Adèle Haenel) auf Spurensuche, als sie vom Tod einer jungen Afrikanerin erfährt, die nachts vergeblich an ihrer Tür klingelte. Das Vorhaben, eine Erkundung des europäischen Schuldkomplexes mit einem Krimi zu verbinden, gerät viel zu konstruiert, und im Unterschied zu älteren Dardenne-Werken fehlt es diesem an emotionaler Kraft.

Zu den gelungeneren Beiträgen der Veteranen-Fraktion gehörte „Paterson“ von Jim Jarmusch, eine unaufgeregte, anheimelnde Meditation über die Schönheit des Unscheinbaren, wie man sie nur noch selten sieht. Die komplexe, aber etwas manipulative Gesellschaftsstudie „The Salesman“ des Iraners Asghar Farhadi konnte gleich zwei Preise für sich verbuchen: Bester Schauspieler (Shahab Hosseini) und bestes Drehbuch. Doch die wirklichen Highlights stammen von Wettbewerbs-Newcomern, die fast allesamt übergangen wurden. Der Rumäne Cristi Puiu lieferte mit dem kryptisch betitelten „Sieranevada“ den formal gewagtesten Cannes-Starter: Sein antidramatisches Kammerspiel macht eine kleine Wohnung in Bukarest zur Bühne eines Familienfests, bei dem in langen Einstellungen und endlosen Gesprächen Privates, Politisches und Historisches durch den Fleischwolf gedreht wird, ohne dass je etwas ins Reine kommt. Schwer klassifizierbar war auch „Rester Vertical“ des Franzosen Alain Guiraudie, ein wunderliches Werk voller inszenatorischer Schrullen zwischen Vaterschafts-Parabel und absurder Komödie: An einer Stelle wird darin ein alter Mann per Analverkehr ins Jenseits befördert.

Selten gab es so viele gute Frauenrollen in Cannes wie dieses Jahr. Selbst schwächere Filme hielten sich mit eindringlichen weiblichen Performances über Wasser. Müsste man eine davon hervorheben, dann wohl es die der brasilianischen Telenovela-Legende Sonia Braga in „Aquarius“ von Kleber Mendonça Filho. Darin brilliert sie als junggebliebene Musikkritikerin, die von einer Baufirma aus ihrer Wohnung gedrängt werden soll. Mit Charme, Intelligenz und Hartnäckigkeit setzt sie sich zur Wehr. Aber auch die Preisträgerin Jaclyn Jones überzeugte in Brillante Mendoza „Ma'Rosa“ als geschäftige Matrone im Korruptions-Dschungel.

Nicht weniger selbstbewusst erscheint eine sensationelle Isabelle Huppert in Paul Verhoevens französischsprachigem Comeback „Elle“: Der leichtfüßige, schwarzhumorige Psychothriller wurde von manchen als „Vergewaltigungskomödie“ missverstanden, dabei geht es um Emanzipation – die Verhoeven fies und hintersinnig an Perversion koppelt. Es war der letzte Film, der im Wettbewerb gezeigt wurde: Ein bissiger Rausschmeißer am Ende eines eher zahnlosen Festivals.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2016)

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