Ach, das müde Europa! Ach, die junge Liebe!

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In der Dokumentation "Europe, She Loves" porträtiert der Schweizer Jan Gassmann junge Paare in vier Städten.

Gibt es eine Korrelation zwischen der Stabilität einer Staatengemeinschaft und der Beziehungsfestigkeit ihrer Bevölkerung? Wenn ja, dann ist „Europe, She Loves“, die neue Dokumentation des Schweizer Regisseurs Jan Gassmann, womöglich mehr als ein Film über Liebe in Zeiten der Krise – vielleicht weist die Unsicherheit seiner Protagonisten auf die zukünftige Entwicklung der gesamten europäischen Union hin. Gassmann porträtiert vier junge Paare in Städten am Rand Europas – Tallinn, Dublin, Sevilla und Thessaloniki – bei ihren Versuchen, die Herausforderungen der Gegenwart (und des Zusammenlebens) zu meistern. Wie der Filmemacher im Gespräch mit der „Presse“ verrät, wollte er die Auswirkungen der Eurokrise auf die Lebensrealität seiner Generation wieder in das Bewusstsein der Menschen rücken.

Unaufdringlicher Vérité-Stil

Erst hatte er bekannte Metropolen wie Paris und Berlin für seine Fallstudie im Visier, doch die Befürchtung, Klischees zu reproduzieren, trieb ihn an die Peripherie, wo er mithilfe von NGOs schnell Kontakte zu möglichen Hauptfiguren knüpfen konnte. Zusammen mit einer eingeschworenen Drei-Personen-Crew begab er sich schließlich auf einen Kino-Road-Trip quer durch Europa. Dessen filmische Ausbeute beleuchtet ganz verschiedene Partnerschaftsstadien. Ob frisch Verliebte oder junge Familie – Hauptsache für Gassmann war, dass sich in den Beziehungen der Paare etwas bewegte.

„Europe, She Loves“ hatte heuer bei der Berlinale Premiere und zeichnet sich durch die beachtliche Intimität seines im unaufdringlichen Vérité-Stil gehaltenen Alltagsexzerpts aus. Man beobachtet Streitgespräche und Neckereien, Eifersuchtsdramen und Bettgeflüster, als wäre man ein unsichtbarer Dritter – ohne dass es jemals allzu voyeuristisch wird. Die Natürlichkeit der Menschen vor der Kamera mutet umso erstaunlicher an, wenn man weiß, dass sich die Drehzeit auf etwa zehn Tage pro Ort beschränkt hat. Diese wurde aber gründlich ausgenutzt, wie Gassmann erklärt: „Abgemacht war, dass wir ankommen und einen Schlüssel zur Wohnung bekommen. Zum Teil ging der Dreh schon in der Früh los, als das jeweilige Paar noch schlief. Es war ein großes Sammeln. Bei einem Film wie diesem, der kein eindeutiges Thema hat, findet man erst im Lauf der Arbeit heraus, was wirklich wichtig ist.“

Das familiäre, zwanglose Auftreten des kleinen Filmteams half dabei, Hemmschwellen zu überwinden. Die Einbeziehung von Sexualität war Gassmann wichtig, das machte er seinen Protagonisten von Anfang an klar. Die authentische Dynamik mancher Szenen wirkt fast zu schön, um wahr zu sein. Ist wirklich gar nichts inszeniert? „Das hätte ich gar nicht hinbekommen. Der Eindruck kommt wohl daher, dass die Liebesthematik für gewöhnlich eher dem Spielfilm vorbehalten ist“, sagt Gassmann. „Interessant ist, dass Pärchen den gleichen Streit meistens dreimal hintereinander führen – wir haben uns die besten Reaktionen ausgesucht, da stehe ich dazu.“ Wobei nicht immer klar war, worum es gerade ging – übersetzt wurde zum Teil erst nach den Drehphasen. „Einmal habe ich gedacht, wir haben ganz tolles Dialog-Material, und dann hat sich herausgestellt: Es war eine lebhafte Diskussion über Brot.“

Über Politik wird kaum gesprochen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zeichnen sich trotzdem ab. Die Porträtierten stammen aus der prekarisierten Mittelschicht ökonomisch angeschlagener Staaten, die Sorge um die Zukunft färbt ihr Denken und Handeln. Alle halten sich an ihrer Liebe fest, aber zugleich stellt sich für manche die Frage, ob das reicht – ob man das individuelle Glück über das gemeinsame stellen sollte. „Externe Faktoren waren im Beziehungskosmos dieser Länder viel präsenter als ich es aus der Schweiz kenne“, so Gassmann. Europa als Zone der amourösen Ungewissheit: Auch darum erscheinen die Paardynamiken weniger unterschiedlich, als man meinen könnte. „Natürlich ist eine Diskussion in Griechenland lauter als in Tallin, da merkt man Mentalitätsdifferenzen, aber wenn es um Wünsche und Bedürfnisse geht, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die jungen Europäer sitzen im selben Boot.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2016)

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