„Mikro & Sprit“: Ausbruch aus der öden Kleinstadtwelt

Mikro & Sprit
Mikro & Sprit(c) Constantin
  • Drucken

Michel Gondry zeigt in „Mikro & Sprit“ zwei Buben in Versailles auf der Suche nach der Freiheit.

Es ist noch gar nicht so lange her, da war Michel Gondry eine Marke. Sein Name stand für sprühenden Einfallsreichtum, kindliche Spielfreude und grenzenlose Laufbildfantasie – in erster Linie aufgrund einer aufsehenerregenden Serie von Werbeclips und Musikvideos (für Künstler wie Björk, Daft Punk und The White Stripes), deren konzeptuelle Originalität und tricktechnische Pfiffigkeit nach wie vor erstaunen. Man wähnte einen geistigen Nachfahren des Frühkinomagiers Georges Méliès am Werk, mit dem Gondry auch eine Vorliebe für handgemachte Kunstwelten verband. In den Nullerjahren brachte der vielseitig begabte Erfindersohn seine wunderlichen Visionen mit Erfolg auf die große Leinwand. Die surreal-melancholische Amnesieromanze „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ mauserte sich – gestützt von ihrem kongenialen Charlie-Kaufman-Drehbuch – rasch zum modernen Klassiker. „The Science of Sleep“ schlug in dieselbe Kerbe, doch die Frische der Ästhetik hatte sich abgenutzt, die Wundertüte wirkte wie aus zweiter Hand.

Gondry zog die Konsequenz: Inzwischen scheint es ihm ein besonderes Anliegen zu sein, sich nicht zu wiederholen. Unter seinen letzten Langfilmen findet sich eine Buddy-Komödie („Be Kind Rewind“), eine intime Familiendoku („L'épine dans le coeur“), ein versponnener Superhelden-Blockbuster („The Green Hornet“), eine Boris-Vian-Adaption („Der Schaum der Tage“), ein rotziges Teenagerdrama („The We and the I“) und ein Zeichentrickporträt des Intellektuellen Noam Chomsky („Is the Man Who Is Tall Happy?“). Mit seinem neuesten Werk, „Mikro & Sprit“ („Microbe et Gasoil“ im Original), kehrt der Tausendsassa zu seinen Wurzeln zurück, aber nur im übertragenen Sinne: Die feinfühlige, unaufgeregte Coming-of-Age-Geschichte spielt in Gondrys Geburtsstadt Versailles und zählt dank autobiografischer Grundierung zu seinen persönlichen Arbeiten.

Als Alter Ego des Regisseurs fungiert der schüchterne Daniel (Ange Dargent), dessen Lebenswelt der erste Teil des Films ohne Überzeichnung und mit viel Detailgespür skizziert. Weil er klein ist für sein Alter, wird er Mikro genannt, wegen seiner Frisur ständig für ein Mädchen gehalten. Zu Hause fehlt es an Halt: Der Vater zeigt sich kaum, die Hippiemutter leidet an Depressionen, der ältere Bruder ist mit seiner Punk-Rebellion beschäftigt. In der Schule findet Daniel wenig Anschluss, die Beziehung zu seinem Schwarm Laura steckt im Platonischen fest. Als der exzentrische, eloquente Théo (Théophile Baquet) in seine Klasse versetzt wird, findet er endlich einen bitter nötigen Freund. Beide sind Außenseiter und Künstlerseelen: Daniel malt leidenschaftlich gern, Théo erweist sich als Bastelfreak, der in seiner Freizeit Autos repariert (daher der Spitzname Sprit) und Fahrräder mit Soundcomputern ausstattet. Zu zweit lassen sie ihrer Kreativität freien Lauf, bauen eine fahrbare Hütte aus Möbelstücken und Schrottplatzgerümpel – und nehmen darin Reißaus vor den Eltern, den Mitschülern, der ganzen öden Kleinstadtwelt.

Touchscreen? Nur für Weicheier!

Einbildungskraft ist für Gondry auch diesmal der Schlüssel zur Freiheit, gepaart mit einer sympathisch anachronistischen Passion für das Analoge: „So ein Touchscreen ist echt eine Erfindung für Weicheier“, stichelt Théo an einer Stelle. Später vergräbt Daniel sein Smartphone im Wald versehentlich zusammen mit der Notdurft.

Doch trotz Retroromantik und bei aller Verrücktheit der Road-Trip-Eskapaden (Geplänkel mit einer asiatischen Straßengang, ein unheimlicher Aufenthalt bei einem einsamen Ehepaar) bleibt „Mikro & Sprit“, und das ist seine größte Stärke, durchwegs geerdet in der Wirklichkeit – ästhetisch wie emotional. Die Freundschaft zwischen den zwei Protagonisten etwa gerät wiederholt ins Wanken, weil Daniel sich bis zum Schluss nicht entscheiden kann, ob er nicht doch lieber normal sein will. Momente des (Selbst-)Zweifels punktieren das Abenteuer, befeuert von der adoleszenten Furcht, im totalen Abseits zu landen. Dennoch rechnet man nicht mit der Härte des abrupten Finales, in dem die beiden Traumtänzer recht unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Die bittere Melancholie der Schlussszenen ist ungewöhnlich für einen zeitgenössischen Jugendfilm – um nicht zu sagen mutig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.