„In the Crosswind“: Filmdenkmal für stalinistische Verbrechen

In the Crosswind
In the Crosswind(c) Stadtkino
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An die 40.000 Menschen wurden 1941 im Baltikum Opfer sowjetischer Zwangsumsiedlung: Der estnische Regisseur Martti Helde inszeniert in „In the Crosswind“ die Erinnerungen der Deportierten – in erdrückenden Bildern.

Es ist eines der düstersten Kapitel der baltischen Geschichte: In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1941 wurden Abertausende von Menschen in Estland, Lettland und Litauen – mehrheitlich Frauen und Kinder – von sowjetischen Umsiedlungskommandos aus ihren Häusern und Wohnungen gezerrt, in Viehwaggons gepfercht und nach Sibirien deportiert. Viele starben während des Transports, noch mehr in Arbeits- und Gefangenenlagern. Die Säuberungsaktion sollte Regimegegner beseitigen und den Widerstandswillen des besetzten Baltikums brechen, um Kollektivierung und Russifizierung den Weg zu ebnen. 1949 folgte die zweite Verschleppungswelle, erst einige Jahre nach Stalins Tod wurde den Überlebenden die Rückkehr in ihre Heimat gewährt.

Die Russische Föderation hat dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit bis heute nicht offiziell zugegeben, kürzlich forderte das estnische Parlament im Zuge von Gedenkfeiern Entschädigung. Dass die Angst von einer neuerlichen Annexion durch die russische Großmacht nach wie vor in den Ostseestaaten präsent ist, liegt nicht zuletzt an den Wunden, die die Massendeportationen hinterlassen haben.

Vorlage: Tagebuch einer Vertriebenen

Der 28-jährige estnische Regisseur Martti Helde hat es sich zur verantwortungsvollen Aufgabe gemacht, dieser historischen Nationaltragödie mit seinem Langfilmdebüt „In the Crosswind“ („Risttuules“ im Original) ein Kinodenkmal zu setzen. Das Tagebuch einer Vertriebenen, das er bei seinen Archivrecherchen entdeckte, diente ihm dabei als Vorlage. Die Protagonistin des ambitionierten Erstlingswerks ist dennoch eine fiktive Figur: Der Film erhebt implizit den Anspruch, das Trauma aller Deportationsopfer in seiner trotz 90-minütiger Laufzeit epischen Erzählung zu fassen, will als universelle Trauergeste verstanden werden.

Die ersten Szenen schildern eine ländliche Familienidylle. Erna (Laura Peterson), ihr Mann Heldur und die kleine Tochter Eliide beim Frühstücken und Bootsfahren, lächelnd, glücklich und in verklärendes Licht getaucht. Dann kommen die Besatzer, und die Zeit steht still: Heldes zentraler Formkniff ist die Inszenierung entscheidender, repräsentativer Augenblicke des kollektiven Leidenswegs als Tableaux vivants. In malerischen, schwarz-weißen Breitwandeinstellungen lässt er die Schauspieler zu Statuen erstarren und führt den Zuschauer mit der Kamera durch seine aufwendigen Anordnungen, als wären es Museumsdioramen.

Jede Station dieser ausgeklügelten Fahrten (die viermonatige Vorbereitungsphasen erforderten, weshalb der Dreh von „In the Crosswind“ fast vier Jahre in Anspruch nahm) bietet ein eindringliches Affektbild, das man mit einer knappen Überschrift versehen könnte: „Abschied“, „Hunger“, „Verlust“, „Hoffnung“. Zuweilen wird der emotionale Gehalt musikalisch unterstrichen, sonst besteht die Tonspur aus atmosphärischen Klangkulissen und einem Voice-over, der die Tagebucheintragungen Ernas verliest – Dialog gibt es nicht.

Die geisterhafte Stimme seiner Hauptfigur gehört zu den gelungensten Stilmitteln des Films. Sie wendet sich stets an den abwesenden Heldur, vermischt Berichte mit Erinnerungen und vermittelt so etwas von einer Subjektivität zwischen Einsamkeit, Verzweiflung und dem Glauben an ein Wiedersehen. Zudem liefert sie die Erklärung für die Eigenheiten des formalen Zugangs: „Die Zeit nimmt hier andere Dimensionen an“, heißt es einmal. Im Lager erzählt Erna von den tagtäglichen Entbehrungen, während sich uns ein Elendspanorama nach dem anderen offenbart. Manchmal versagen die Worte, und die Lautlosigkeit der Kamerabewegung wird zum Ausdruck eines unauslöschlichen Schmerzes.

Diese Innenperspektive hat der Film bitter nötig: Denn bei allem Respekt dafür, wie hier die technischen Herausforderungen eines gewagten Konzepts gemeistert werden, haftet „In the Crosswind“ letztlich etwas Schwerfälliges und Erdrückendes an. Anstatt die Erinnerung an die Massendeportationen wachzuhalten, mauert er sie in einer Trauerkathedrale ein. Seine Standbilder laden nicht wirklich ein zur Auseinandersetzung mit Geschichte – sie muten an wie ein vom Schicksalsschrecken versteinertes Gedächtnis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2016)

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