In diesem Film trägt der Wolf keinen Schafspelz

Wild
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In Nicolette Krebitz' „Wild“ holt sich eine introvertierte Frau einen Wolf in ihre Wohnung – und entdeckt dabei das Animalische in sich selbst. Ein wunderbar radikaler und faszinierender Film über die Befreiung vom Alltag, die Erotik der Gefahr und die Grenzen des Menschseins.

Die Schlüsselszene dieses Films ist ein kurzer, unaufgeregter Moment, doch dieser hat es in sich. Eine Frau, die sich mit der Eintönigkeit ihres Lebens abgefunden hat, trifft auf einen Wolf. Am Rand eines verwilderten Parks steht er, ein ungewohnter Besucher in der tristen Stadtrandfadesse. Die Begegnung dauert nicht lang, doch ihre Wirkung hält an – für den Zuschauer, vor allem aber für die Frau, in deren Blick man so viel zu erkennen glaubt: Sie ist verunsichert, fasziniert, zugleich zu allem entschlossen. In dieser Szene steckt alles, was für sie bisher war, und alles, was noch sein könnte: die Verheißung einer großen Veränderung, einer Befreiung.

Selten hat ein Film die Geschichte einer solchen Befreiung so mutig, so radikal, so erregend erzählt wie „Wild“ der deutschen Regisseurin Nicolette Krebitz, die – zu Recht! – zur Riege jener vor allem weiblichen Filmemacher gezählt wird, die das deutsche Kino gerade mit außergewöhnlichen Werken erneuern. Im Zentrum steht die introvertierte Ania (großartig besetzt mit der Theaterschauspielerin Lilith Stangenberg), die nicht viel spricht, und wenn, dann mit leiser, brüchiger Stimme. Fast alles in ihrem Umfeld ist grau: der Himmel, der Plattenbau, in dem sie wohnt, die Daunenjacke, die sie auch drinnen nicht ablegt. Beziehungen hat sie kaum: Ihr Großvater liegt im Sterben, das Verhältnis zu ihrer Schwester ist abgekühlt, im Büro gibt es nur oberflächliche Bekanntschaften und einen cholerischen Chef (den Österreicher Georg Friedrich), der per Ballwurf an die sie von ihm trennende Scheibe signalisiert, dass er einen Kaffee will.

Sex, Fetzen und rohes Fleisch

Dass das Leben mehr für sie bereithalten könnte, ahnt sie, sobald sie dem Wolf begegnet. Sie fängt das Tier ein und bringt es in ihre Wohnung. Da beginnt die Metamorphose: Während der Wolf sie als Gefährtin akzeptiert und seine Triebe in ihrer Anwesenheit zurückdrängt, kehrt sie die ihren hervor. Sie entdeckt ihre sexuelle Lust, sie schert sich nicht mehr um ihre Verpflichtungen, und sie verwildert: Bald sitzt sie mit zerfetzten Kleidern auf dem Küchenboden und isst gemeinsam mit dem Wolf eine Packung rohes Faschiertes. Der Wolf führt sie nicht nur an ihre Grenzen, sondern auch an die des Menschseins: Sprache, Kleidung, Verhaltensnormen – wie viel davon kann man ablegen, wie tierisch kann man werden und trotzdem ein Mensch bleiben?

Bei all dem driftet der Film nie ins Esoterische ab. Anias Erlebnis ist auch keine Zivilisationsflucht, im Gegenteil: Ihre neue Wildheit beflügelt auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, vor allem die zu ihrem Chef, der ihre Wandlung mit mehr Neugier als Argwohn beobachtet. Der Film lässt kein Pathos zu, er beutet keine Wolfmythen und -metaphern aus – dieser Wolf hat keinen Schafspelz, er ist auch nicht böse, sondern ein ganz reales, greifbares, wenn auch bedrohliches Tier. Und für Ania zudem ein Objekt ihrer erotischen Begierde, das erfüllt, was ihr Chef nicht zu erfüllen vermag. In einer Traumsequenz folgt er den Spuren ihres Regelbluts ins Bad, leckt erst ihre Füße, dann ihre Knie, dann ihren Schoß – ein beunruhigendes Bild.

Krebitz' Film ist stilistisch streng inszeniert, mit kühlen Bildern, doch durchzogen von einer Wildheit, die nicht zuletzt auf die Arbeit mit echten Tieren und Stangenbergs offenes Spiel mit ihnen zurückgeht. Wenn der Wolf von einer Sekunde zur nächsten vom sanften Kuscheltier zum Zähne fletschenden Biest wird, dann wirkt das tatsächlich so, als wären ihm die Triebe durchgegangen. Und wenn sich Ania dann zu ihm hinlegt, nackt und furchtlos, dann raubt einem dieses Bild fast den Atem.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2016)

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