Venedig: Überleben unter Kannibalen

Jessica Hausners ''Lourdes''
Jessica Hausners ''Lourdes''(c) APA (Stefan Olh)
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John Hillcoats postapokalyptische Romanverfilmung „The Road“ mit Viggo Mortensen beeindruckt; Jessica Hausners „Lourdes“ enttäuscht.

Ein ungewohnter Anblick dominiert heuer das Festivalgelände am Lido von Venedig: Ein großes Areal vor dem Festivalpalazzo ist abgesperrt. Die Baustelle für ein überfälliges Großkino, das als Festivalzentrale modernen Ansprüchen genügen (und einen wirtschaftlich wichtigen Markt für Filme beherbergen) soll. Leicht verwirrt irren in den Eröffnungstagen selbst erfahrene Journalisten durchs unausgeschilderte Labyrinth: Im Gedränge durch die Gassen ist es unmöglich, die Behauptung zu überprüfen, dass wesentlich weniger Gäste, Käufer und Reporter gekommen sind.

In Cannes wurde deshalb heuer viel gejammert. In Venedig scheint das nicht so wichtig: Die Entspanntheit sagt viel über den italienischen Charme des Festivals aus – auch wenn sie manchmal, vor allem bei der Technik, ins Chaos führt. Kleine Krisen erheitern aber eher, die Bedrückung wegen der großen spiegelt sich fast ständig auf der Leinwand: Sinnsuche ist das große Thema, immer wieder geht es um Leben im Ausnahmezustand. Nirgendwo sind die Umstände so extrem wie im zweiten US-Wettbewerbsbeitrag The Road. Der Australier John Hillcoat hat Cormac McCarthys postapokalyptischen Roman kongenial beiläufig verfilmt. Die Odyssee eines Vaters (Viggo Mortensen) und seines Sohns durch die Ruinen der Zivilisation ist in ihrer Reduktion intensiv: Abgesehen von wenigen Rückblenden spielt The Road in grauerÖdnis – umso effektiver der Eindruck, wenn etwa das Kind an einem Wasserfall erstmals Farben eines Regenbogens sieht.

Menschenfleischfabrik im Keller

Hauptsächlich aber gerät das Duo in Gefahrensituationen: Misstrauen und Gewalt regieren, unaussprechliche Schrecken begleiten ihren Weg – der Nahrungsmangel führt zu Kannibalismus, in einem scheinbar verlassenen Haus findet sich eine regelrechte Menschenfleischfabrik im Keller. Das Gegenstück dazu sind bewegende intime Momente der Nähe zwischen Vater und Sohn, in denen dieselben Fragen positiver gestellt werden: Was ist Humanität im Angesicht der totalen Katastrophe? Hillcoats bemerkenswert bebilderter, grandios gespielter Film spielt die Frage mit erstaunlicher Konsequenz durch, auch wenn sein vom Roman abweichender Schluss mancherorts kritisiert wurde.

Im österreichischen Wettbewerbsfilm Lourdes von Jessica Hausner stellen sich Sinnfragen unter umgekehrten Vorzeichen: Sylvie Testud spielt, beherzt mausig, eine an den Rollstuhl gefesselte Teilnehmerin einer Gruppenfahrt zum titelgebenden Wallfahrtsort. Ihre (vorläufige?) Wunderheilung löst bei den anderen Neid aus: Überhaupt dominiert ein totaler kleinbürgerlicher Geist. Hausner erzählt fast durchgehend in statischen Einstellungen: Die Eindrücke vom Wallfahrtsort als Serie steriler Guckkastenbilder, in Lichtstimmung und Geometrie oft geschickt arrangiert (Kamera: Martin Gschlacht). Die erwünschte Wirkung ist leichte Absurdität und betonte Banalität. Unseligerweise trifft das auch auf die Konstruktion des Films zu: Die minimale dramatische Entwicklung ist so vorhersehbar wie Hausners ermüdend seichte Variationen zu Kommerzialisierung und Leichtgläubigkeit.

Die Distanzierung ist so stark, dass ungewiss bleibt, ob die teils kaum lippensynchrone Nachvertonung einiger Rollen auf Französisch ein Brecht'scher Effekt oder Ungeschick ist. Die Wunderheilung führt zu zahlreichen vereinfachten Grundsatzdebatten zwischen einem Priester und Skeptikern. In der Pressevorführung wurde dabei der Glaubensmann lautstark verlacht: Das sagt vermutlich mehr über die Zuseher als den Film, wiewohl Hausner eine spöttische Haltung nicht eben entmutigt. Zuletzt lässt sie einen darauf warten, dass die Kurierte beim Tanzen zusammenbricht und sich wieder aufrichtet. Dann gibt es eine windschiefe Interpretation des Italoschlagers „Felicita“: Nicht nur das Glück gebt es in Lourdes billig.

FILMFESTSPIELE VENEDIG

Die ältesten noch bestehenden Filmfestspiele finden seit 1932 statt. Eröffnet wurde heuer mit Giuseppe Tornatores epischem Melodram „Baarìa“, das von der internationalen Presse als Desaster eingestuft wurde. In Italien wird der (nicht inflationsbereinigt) teuerste italienische Film aller Zeiten zum „Meisterwerk“ stilisiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2009)

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