„Mister Universo“: Selbst die Wehmut ist hier charmant

„Mister Universo“: Als sein Talisman verschwindet, macht sich der Dompteur Tairo (Laiendarsteller Tairo Caroli) auf die Suche nach dessen Schöpfer.
„Mister Universo“: Als sein Talisman verschwindet, macht sich der Dompteur Tairo (Laiendarsteller Tairo Caroli) auf die Suche nach dessen Schöpfer.(C) Stadtkino Filmverleih
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Der Film „Mister Universo“ des österreichisch-italienischen Regieduos Rainer Frimmel und Tizza Covi feierte in Locarno seine Premiere.

Man sieht dem Talisman seine Besonderheit nicht an: Vor jedem Auftritt küsst der junge Dompteur Tairo ein hufeisenförmig gebogenes Metallstück und schöpft aus diesem Ritual die Kraft, um sich dem Publikum zu stellen. Der Glücksbringer ist das Geschenk eines anderen Schaustellers, des ersten schwarzen Mister-Universum-Gewinners, Arthur Robin. Als Kind wurde Tairo Zeuge einer seiner Performances und bekam das Produkt einer Eisenverbiegung als Andenken. Kurz darauf überlebte seine Familie einen schlimmen Autounfall, und obwohl Tairo nicht abergläubisch ist, ist das unscheinbare Kleinod für ihn seither mit einer magischen Aura aufgeladen. Kein Wunder, dass er sauer ist, als es plötzlich verschwindet. Und weil es ihm gerade nicht allzu gut geht (der Lieblingstiger Rambo ist verstorben, die Mitarbeiter nerven und das Zirkusgeschäft läuft mäßig), will sich Tairo einen neuen Talisman von Robin biegen lassen – aber dafür muss er seinen Jugendheld erst einmal ausfindig machen.

Auf dem Papier könnte „Mister Universo“ – der neue Film des österreichisch-italienischen Regieduos Rainer Frimmel und Tizza Covi, der am vergangenen Samstag im Wettbewerb des Internationalen Filmfestivals von Locarno seine Premiere feierte – fast mit einer Hollywood-Produktion verwechselt werden: Die Heldenreise eines Außenseiters auf der Suche nach seinem geraubten Elixier.

Keine einzige unsympathische Figur

Doch wer das Schaffen der beiden Regisseure kennt, weiß, dass sie zu sehr der Wirklichkeit verpflichtet sind, um der Dramaturgie den Vorrang gegenüber der Beobachtung zu geben. Zumal es wieder einmal um italienische Wanderzirkusartisten geht: Ein Milieu, mit dem Frimmel und Covi schon seit ihrer Dokumentation „Babooska“ eine persönliche Beziehung verbindet. In ihrem späteren Spielfilm „La Pivellina“ besetzten sie Vertreter des prekarisierten Soziotops als Protagonisten. Einer davon war der fünfzehnjährige Tairo Caroli – in „Mister Universo“ gibt er die Hauptfigur.

Über Tairos lockere Interaktionen mit den Menschen aus seinem beruflichen und familiären Umkreis – allesamt Laiendarsteller, die sich mehr oder weniger selbst spielen– zeichnet der Film das unaufgeregte Porträt einer losen Gemeinschaft, die es trotz widriger Umstände geschafft hat, so etwas wie ein bescheidenes Glück zu finden. Ästhetisch ist das semidokumentarische Porträt der mobilen Wohnwagensiedlung, in der die Schausteller leben, roh und ungeschönt. Die Tristesse der grau-grünen Bildtexturen wird durch die Körnung des 16-mm-Filmmaterials verstärkt (am Ende steht im Übrigen eine Widmung an all jene, die durch die Digitalisierung des Kinos ihren Job verloren haben). Dennoch strahlt fast jede Szene menschliche Wärme aus: Es gibt keine einzige unsympathische Figur, selbst Zwistigkeiten haben etwas Liebevolles an sich. Ein Mangel an Konflikten bedeutet einen Mangel an Drama, aber das macht nichts – man sieht und hört diesen Leuten einfach gern zu, nicht zuletzt aufgrund der durchwegs einnehmenden Natürlichkeit ihres Spiels.

Auf seiner Suche nach Robin klappert Tairo fast seine ganze Familie ab, und jeder hat etwas zu erzählen. Ein Hauch von Melancholie liegt dabei immer in der Luft, eine Sehnsucht nach früheren Zeiten, als es noch etwas leichter war, über die Runden zu kommen. Doch selbst die Wehmut ist charmant, wenn sie die Form einer alternden Schimpansendame annimmt, die laut ihrem Besitzer früher mit Federico Fellini und Adriano Celentano zusammengearbeitet hat. Oder wenn sie im brüchigen Gesang von Tairos Bruder mitschwingt, der irgendwann einmal kurz davor war, Schlagerstar zu werden.

Wie Hollywood – nur ohne Kitsch

Als Tairo schließlich am Ziel ankommt, scheint es fast so, als wäre überhaupt nie etwas verloren gegangen: Derart bestärkend wirkt die Präsenz von Arthur Robin, der mit seinen 87 (!) Jahren den Eindruck eines Mittfünfzigers macht (auch wenn er ab und zu versehentlich in die Kamera schaut) und nach wie vor sein tägliches Training absolviert. Zwar kann er kein Eisen mehr verbiegen, aber dafür biegt er mit seiner freundlichen und ermunternden Attitüde Tairos Selbstwertgefühl wieder zurecht. Das klingt jetzt wieder ein bisschen nach Hollywood – doch die Atmosphäre der Begegnung ist viel zu offen und unbestimmt, um kitschig zu sein. Und das gilt, seiner Form zwischen Dokument und Fiktion sei Dank, für den ganzen Film.

FILMFESTIVAL LOCARNO

Wettbewerb. Noch bis 13. August findet im Schweizer Tessin das 69. Internationale Filmfestival von Locarno statt. Eröffnet wurde es auf der Piazza Grande mit Colm McCarthys „The Girl with All the Gifts“, insgesamt werden heuer über 250 Filme gezeigt, ein Schwerpunkt liegt auf jungem Kino. Im zentralen Wettbewerb, Concorso Internazionale, bewerben sich heuer 17 Filme aus aller Welt um den Goldenen Leoparden, darunter die österreichisch-italienische Produktion „Mister Universo“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel. Der Film kommt am 11. November regulär in die österreichischen Kinos.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2016)

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