Venedig zwischen Digital-Jesus und Nostalgie

La La Land
La La Land(c) Dale Robinette
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Mit der schwelgerischen Traumfabrik-Romanze „La La Land“ wurden die 73. Filmfestspiele Venedig eröffnet. Wagemutige Werke findet man im Programm kaum, dafür lockt das Festival mit Stars und technologischen Spielereien.

Wer ist dieses Jahr der größte Star in Venedig? Für technikaffine Festivalbesucher kann es nur eine Antwort geben: Jesus. Ganz recht – der Heiland höchstpersönlich lässt sich heuer am Lido blicken. Allerdings nicht in Fleisch und Blut, sondern als virtuelle Realität. Die Kinomostra – die gestern ihre 73. Edition eröffnet hat – hat einen Sichtungsraum mit Headsets bestückt und gewährt Interessierten vier Tage lang erste Einblicke in „Jesus VR – The Story of Christ“. Der mit 360-Grad-Kameras gedrehte Film soll Ungläubige vom Potenzial der jungen Technologie als Erzählmedium überzeugen und zugleich unterstreichen, dass sich die ältesten Filmfestspiele der Welt nach wie vor am Puls der Zeit befinden. Denn die Konkurrenz während der Herbstsaison ist groß. Toronto, Telluride, New York und San Sebastián werben dem Urgestein die Weltpremieren ab. Auch der Filmmarkt steht in Venedig auf wackligen Beinen.

Die Intendanz des Festivaldirektors, Alberto Barbera, hätte 2015 ablaufen sollen, wurde aber vergangenen Oktober nach einer Gesetzesänderung um ein Jahr verlängert. Inzwischen hat man ihm, ebenso wie Biennale-Chef Paolo Baratta, eine weitere Vier-Jahre-Amtsperiode genehmigt. Barberas Bemühungen, die Mostra im Gespräch zu halten und es dabei allen Interessensgruppen recht zu machen, kommen bei Italiens Kulturverwaltern offenbar gut an.

Der schwächelnde Markt wurde heuer etwa zur Venice Production Bridge umfunktioniert. Er soll mit einer Fokussierung auf die Förderung bereits laufender Projekte eine von Cannes und Berlin vernachlässigte Nische besetzen. Zugleich gibt es mit Cinema in the Garden einen populistischen Vorstoß: Premieren außer Konkurrenz, gratis und öffentlich zugänglich. Dafür wurde dort, wo bislang ein Baustellenloch als Symbol alter Misswirtschaft das Festivalgelände verschandelte, ein roter Kino-Container aufgestellt: Zwei Fliegen mit einer Klappe.

An Glamour mangelt es nicht

Dem Wettbewerbsprofil hat die Konsensstrategie freilich nicht gutgetan. Wirklich wagemutige Werke findet man in der Hauptsektion nur noch sporadisch. Aber Stars sind im zeitgenössischen Festivalzirkus mehr wert, und in dieser Hinsicht kann Barberas Programmierung als Erfolg gewertet werden: Das Festival konnte drei Jahre hintereinander spätere Oscar-Gewinner für sich verbuchen („Gravity“, „Birdman“, „Spotlight“) und ist als Kampagnensprungbrett für US-Produktionen wieder attraktiv. „The Light between Oceans“ mit Michael Fassbender und Alicia Vikander, „Nocturnal Animals“ mit Jake Gyllenhaal und Amy Adams, „Arrival“ mit Adams und Jeremy Renner: Im Rennen um den Goldenen Löwen ist Hollywood-Prominenz heuer stark vertreten, an Glamour wird es am Lido nicht mangeln.

Starpower ist zum Glück nicht das Einzige, was Damien Chazelles Eröffnungsfilm „La La Land“ auszeichnet. Dennoch wirkt es als romantisches Breitwand-Nostalgiefest im Geist glorreicher Traumfabrik-Vergangenheit wie maßgeschneidert für Oscar-Wähler. Der Titel ist ein Spitzname für den Schauplatz Los Angeles, deutet aber auch auf das klassische Musical-Genre hin, dem der Film Tribut zollt. Seine Einstiegssequenz legt die Karten unverhohlen auf den Tisch: Highway-Stauopfer in buntem Kostüm springen unvermittelt aus ihren Autos und trällern tanzend von ihren Sehnsüchten, während Linus Sandgrens Kamera sie virtuos umkreist. Dann treffen wir die Träumer Mia (Emma Stone) und Sebastian (Ryan Gosling): Sie will Schauspielerin werden, er seinen eigenen Jazzclub eröffnen. In Jahreszeitenkapiteln gegliedert erzählt „La La Land“ ihre Bilderbuch-Liebesgeschichte auf betont altmodische Art.

Ein bewusst grenzwertiger Retro-Exzess

Chazelle hat schon vor seinem Durchbruch mit dem Schlagzeuger-Drama „Whiplash“ ein schönes, rohes No-Budget-Schwarz-Weiß-Jazz-Musical realisiert („Guy and Madeline on a Park Bench“). „La La Land“ ist ein Herzensprojekt, das seine Verehrung für die goldene Ära von Film und Musik überdeutlich zur Schau stellt: Die Hauptfiguren steppen unisono vor einer Sonnenuntergang-Skyline und kommen sich dann näher bei einer analogen (!) Vorführung von „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Sebastian erklärt seiner Flamme im legendären Lighthouse Cafe das Wunder der Jazzmusik – die heute, so klagt er, niemand mehr höre. Die Grenzwertigkeit dieses Retro-Exzesses ist Chazelle bewusst, einmal gibt es sogar einen Wortwechselwink in Richtung Publikum: „It feels too nostalgic to me, what if people don't like it?“ – „Fuck 'em!“.

Dabei ist der aufrichtige Kitsch der Inszenierung gar kein Problem – ärgerlich ist nur, dass die Hommage anfangs bei aller Hingabe etwas unbeholfen wirkt. Gosling und Stone haben Charme, aber Fred Astaire und Ginger Rogers sind sie nicht, die Choreografie muss sich entsprechend zurückhalten. Erst als die obligatorische Beziehungskrise ihren Lauf nimmt, entwickelt „La La Land“ überraschende Tiefe. Am Ende steht ein melancholischer Blickwechsel, in dem sich sämtliche Motive des Films auf kraftvolle Weise bündeln: Nostalgie ist darin nicht mehr bloßer Oberflächenglanz, sondern emotionale Substanz.

FILMFESTSPIELE VENEDIG

Tradition. Die Internationalen Filmfestspiele Venedig, auch Kinomostra genannt, sind das älteste Filmfestival der Welt und gehen heuer in ihre 73. Ausgabe. Sie sind Teil der Biennale und stehen seit 2012 unter der Leitung von Alberto Barbera. Jurypräsident ist heuer der britische Regisseur Sam Mendes, er wird mit weiteren acht Juroren den Gewinner des Goldenen Löwen küren. Österreich ist u. a. mit Ulrich Seidls Film „Safari“ vertreten, der außer Konkurrenz seine Weltpremiere feiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2016)

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