„Nebel im August“: Getötet in der Heilanstalt

NEBEL IM AUGUST
NEBEL IM AUGUST(c) Filmladen
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Der junge Ernst Lossa durchschaute das Euthanasieprogramm der Nazis – und fiel ihm wohl deshalb auch zum Opfer. „Nebel im August“ erzählt seine aufwühlende Geschichte.

Dr. Veithausen hat seine wichtigsten Mitarbeiter in sein Büro gerufen. Das zentrale Euthanasieprogramm, die Aktion T4, sei eingestellt worden, verkündet er. Ab jetzt würden keine Kinder mehr in den Bus gesteckt, um sie in eine Tötungsanstalt zu bringen, wo sie dann ermordet würden. „Gott sei Dank“, atmet die Krankenschwester auf. Was Veithausen da noch nicht erwähnt: Das Töten geht weiter. Nur eben nicht an einer zentralen Stelle, sondern in jeder einzelnen Klinik. Auch in der Nervenheilanstalt, der Veithausen vorsteht, wird nun nicht nur entschieden, welche Kinder „lebensunwert“ sind. Jetzt werden sie hier auch getötet.

Als „wilde Euthanasie“ bezeichnete man diese Phase ab 1941, als Hitler das zentrale Tötungsprogramm wegen Protesten der Kirche und der Bevölkerung stoppte. Statt in Gaskammern wurde nun mit Gift und später auch mit Nahrungsentzug gemordet. Insgesamt wurden von 1939 bis 1945 über 200.000 meist kranke oder behinderte Menschen von den Nazis getötet. Der 14-jährige Ernst Lossa war einer von ihnen: Am 9. August 1944 bekam er in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee zwei Spritzen mit einer Überdosis Morphium. Sein Fall hat die amerikanischen Besatzungsmächte, spätere Ermittler, Historiker und Psychiater besonders beschäftigt: Der Sohn Jenischer, eines Volks fahrender Händler, war kerngesund, als er wegen „asozialen Verhaltens“ von einem Erziehungsheim in die Psychiatrie abgeschoben wurde. Es ist dokumentiert, dass er von den Tötungen in der Klinik wusste und mehrfach versuchte, andere Kinder davor zu retten. Vermutlich landete er so auch selbst auf der Liste jener, die ausgelöscht werden sollten.

Der deutsche Autor Robert Domes erzählt die Geschichte historisch exakt, jedoch aus der persönlichen Sicht des Buben in seinem Tatsachenroman „Nebel im August“. Der Regisseur Kai Wessel bringt diesen nun als atmosphärisch dichtes Drama auf die Kinoleinwand: Der während der Dreharbeiten erst zwölfjährige Ivo Pietzcker spielt darin den aufmüpfigen, schlauen, auch hilfsbereiten Ernst, der, kaum in der Klinik angekommen, schnell erfasst, was hier vor sich geht, und sich beharrlich dagegen auflehnt: Er stiehlt Essen für jene Patienten, die durch die sogenannte Entzugskost verhungern sollen, er lässt absichtlich den vergifteten Himbeersaft fallen, mit dem er eine kleine Patientin füttern soll. Anfangs noch von der Hoffnung getrieben, sein Vater (berührend: Karl Markovics in einer kurzen Szene) könnte ihn abholen, fasst er schließlich den Plan, mit seiner Freundin Nandl (Jule Hermann) aus der Klinik zu fliehen, bevor es für die beiden zu spät ist.

Ein kinderlieber Kindsmörder

Doch seine Sabotageversuche fallen auch dem Anstaltsleiter Dr. Veithausen auf. Sebastian Koch begeistert und berückt in dieser Rolle: Er schafft es, die ganze Ambivalenz eines Mannes auszudrücken, der ein sanftmütiger, kinderlieber Arzt, gleichzeitig aber ein überzeugter Vertreter der Auffassung ist, dass manche Kinder zum Wohl der Gesellschaft getötet werden müssten. In einer Szene spielt er freundlich mit seinen Patienten, in einer anderen erklärt er feierlich vor uniformierten SS-Offizieren: „Das untere Drittel muss ausgemerzt werden.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der er beide Rollen in sich vereint, ist schmerzlich – wie auch die Tatsache, dass das reale Vorbild der Figur, das noch Wochen über das Kriegsende hinaus Patienten ermordete, für seine Taten nie bestraft wurde: Valentin Faltlhauser wurde verurteilt, musste seine Haftstrafe aber nie antreten und wurde schließlich begnadigt.

Zerstörerische Logik der Nazis

Von den unmenschlichen Ereignissen in der Psychiatrie erzählt Wessel ohne Pathos und ohne falsche Dramatik. Am aufwühlendsten sind die leisen Szenen, in denen er die zerstörerische Logik der Nazis demonstriert: Eine Krankenschwester (Henriette Confurius) erklärt Ernst die Notwendigkeit des „Gnadentods“ etwa mit dem Bild eines verletzten Rehkitzes, das erlöst werden will. Daneben betont Wessel die Leichtigkeit der Kinder, die den vom Bombenschauer bunt gefärbten Horizont bewundern können wie eine malerische Himmelserscheinung. Von Leichtigkeit geprägt ist auch der Umgang der Kinder mit den behinderten Patienten. Hier berührt der Film eine Frage, die sich auch unsere heutige Gesellschaft stellen muss: wie sehr wir das „Nichtnormale“ ausgrenzen – oder verhindern – wollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2016)

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