Mikrokosmos der Italiener von New York

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US-ENVIRONMENT-SUNSETAPA/AFP/TIMOTHY A. CLARY
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Ein Doku-Film von Jörg Kalt wird derzeit postum im Metro-Kino gezeigt.

„Ich reise nicht gerne. Ich bin eine New Yorkerin, ich mag New York.“ Im Apartment über ihrem ehemaligen Geschäftslokal fühlt sich die alte Frau mit neapolitanischen Wurzeln wohl. Wozu auch ferne Länder ansteuern, wenn man Ecke Mulberry und Grand Street, an der Schnittstelle zwischen Chinatown und Little Italy, einen unerschöpflichen Mikrokosmos vor der Haustür hat? Auf diese Wimmelwelt aus Kramläden, Klimbim und Charakterköpfen wirft Jörg Kalts postumes Werk „Shops Around the Corner“ einen neugierigen Blick.

1998 begaben sich Kalt und Kamerafrau Eva Testor mit Doku-Plänen nach Manhattan. Kurz vor Kalts Suizid 2007 erhielt seine Freundin und Kollegin Nina Kusturica das Rohmaterial mit der Bitte, das Projekt fertigzustellen. Das Resultat ist ein trotz bescheidener 70-minütiger Länge äußerst reichhaltiger Rundgang durch ein Grätzel, bei dem Kalt als Interviewführer fungiert – ein schönes Pendent zu Frederick Wisemans Queens-Porträt „In Jackson Heights“.

Akteure wie von Scorsese

Der Fokus liegt auf den italo-amerikanischen Ladenbesitzern, die alle einem Scorsese-Film entsprungen scheinen. Jeder ist ein Original, Robert de Niro war überall Kunde, davon zeugen stolz präsentierte Fotos. Es ist eine Freude, diesen Menschen zuzuhören, aber im Gespräch scheinen auch Problematiken durch, die wie die Videotextur des Films an dessen Zeitkapsel-Charakter erinnern – wer weiß, wie viele dieser Budiker inzwischen der Gentrifizierung weichen mussten? Die chinesische Community, von den Italienern mit latentem Rassismus als Usurpator beäugt, kommt leider selten zu Wort. „Shops Around the Corner“ läuft heute und bis 15. 10. noch drei Mal im Metro-Kino als Teil einer sehenswerten Jörg-Kalt-Gesamtwerkschau des Filmarchivs Austria. (and)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2016)

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