Mia Hansen-Løve: „Meine Filme haben ihr eigenes Unbewusstes“

New York Filmfestival Things To Come Premiere Mia Hansen Love arrives on the red carpet at the 54th
New York Filmfestival Things To Come Premiere Mia Hansen Love arrives on the red carpet at the 54thimago/UPI Photo
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Regisseurin und Drehbuchautorin Mia Hansen-Løve hat ihren jüngsten Film, „L'avenir“, Isabelle Huppert auf den Leib geschrieben. Das feinfühlige Drama hat am Dienstag bei der Viennale Österreich-Premiere.

Die Presse: In gewisser Weise ist jeder Ihrer Filme ein Coming-of-Age-Film. So auch „L'avenir“ – nur ist die Hauptfigur eine Philosophielehrerin in ihren Fünfzigern, die sich nach einer Trennung neu ausrichten muss. Glauben Sie, dass man seine Identität in jedem Alter umkonfigurieren kann?

Mia Hansen-Løve: Ich weiß nicht, aber ich hoffe, dass es möglich ist. Am Anfang der Drehbuchentwicklung war ich in dieser Hinsicht pessimistischer, das Schreiben führte zu einem Perspektivenwechsel. Ich war besorgt, kein Licht am Ende des Tunnels zu finden, doch die Hauptfigur hat mich mit ihrer Anpassungsfähigkeit überrascht. Wenn ich mit der Arbeit an einem Film beginne, habe ich keine fixe Meinung zu dem, was er aussagen wird oder welche Antworten in ihm stecken. Jeder meiner Filme ist eine Suche nach etwas – einem Sinn, einer Haltung.

Haben Sie das Drehbuch während des Drehs umgeschrieben?

Nein, das Drehbuch blieb, wie es war, aber die Stimmung änderte sich. Im Schnitt kam mehr und mehr Licht in die Welt des Films. Manchmal ist es umgekehrt. Bei meinem letzten Film, „Eden“, dachte ich, es würde ein fröhliches Neunziger-Jugendporträt werden, am Ende ging es um Verlust und Versagen. Mir gefällt die Idee, dass meine Filme ihr eigenes Unbewusstes haben und dass ich im konstanten Gespräch mit ihnen stehe.

Sie greifen in Ihren Filmen oft auf persönliche Erfahrungen vertrauter Menschen zurück. Bei „Eden“ war Ihr Bruder Ko-Autor. Nathalie, die Protagonistin von „L'avenir“, basiert auf Ihrer Mutter. War sie am Schreibprozess beteiligt?

Sie wusste Bescheid und half mir vor allem bei technischen Details: den Szenen im Klassenzimmer und der Auswahl von Philosophiezitaten für den Film.

Ganz beiläufig ordnen Sie jede Figur einer philosophischen Schule zu. Nathalie mag Rousseau, ihr Mann Heinz ist ein strenger Kantianer – der sich ironischerweise als Ehebrecher entpuppt.

Mein Vater war auch Philosophielehrer, und meine Eltern haben ständig über die Gültigkeit ihrer Denkschulen diskutiert. Umso klarer wurde mir später, als sie sich trennten, wie wenig einen das gegen die Unwägbarkeiten des Lebens immunisiert. Das wollte ich in meinem Film verarbeiten: Normalerweise zeichnet das Kino Männer, die ihre Frauen verlassen, als skrupellose Egozentriker, aber die Wahrheit ist oft komplizierter.

Drama gibt es zur Genüge in „L'avenir“, aber es wird undramatisch präsentiert. Vieles bleibt unausgesprochen – etwa eine Liebesgeschichte zwischen Nathalie und ihrem ehemaligen Schüler. Sind Sie allergisch auf „große“ Momente?

Das hat mit meiner Weltsicht zu tun und dem Versuch, meiner Lebenserfahrung treu zu bleiben. Ich finde, der Zuschauer braucht keine dramaturgischen Krückstöcke, um zu verstehen, worum es mir geht. Schmerz, Leidenschaft und die Gewalt des Daseins können auch anders zum Ausdruck kommen. Aber wenn man sich bei einer Trennungsgeschichte automatisch großes Gezeter erwartet, kann diese Unterschwelligkeit verstören.

In „L'avenir“ geht es auch um die Frage, ob das „Leben des Geistes“, um es mit Hannah Arendt zu sagen, einem Kraft geben kann. Würden Sie das bejahen?

Ich habe Germanistik studiert, und in meiner Diplomarbeit ging es um Max Schelers „Wesen und Formen der Sympathie“. Damals wusste ich nicht, dass ich Filme machen würde, aber ich glaube, dass es eine Verbindung gibt zwischen diesem Thema und meinem heutigen Zugang zu fiktionalen Figuren. Ob Philosophie mir geholfen hat, kann ich nicht genau sagen, aber die Auseinandersetzung mit Kunst ist ein Kraftspender. Das haben mir meine Eltern mitgegeben: Dass Freiheit oft eine innere Angelegenheit ist und Kunst den Weg zu ihr weisen kann.

Eine Besonderheit Ihrer Filme liegt in der Aura einzelner Details: Die Schauplätze und Requisiten wirken immer, als würden Sie etwas Bestimmtes damit verbinden.

Wenn ich mit abstrakten Dingen wie Ideen und Gefühlen hantiere, scheint es mir ganz selbstverständlich, sie auf Objekte zu übertragen. Im Film liest Nathalie den Essay „Der radikale Verlier“ von Hans Magnus Enzensberger. Ich hätte einen ähnlichen Titel erfinden können, aber das wäre nicht dasselbe. Es geht mir nicht um explizite Referenzen, sondern um eine Poesie der Dinge.

Hat die Bauernhof-Kommune, die Nathalie ein alternatives Lebensmodell vorführt, auch ein reales Vorbild?

Tatsächlich hatte meine Mutter einen sehr begabten Schüler, der sich entschied, aufs Land zu ziehen und dort autonom zu leben, und ich kenne selbst einige junge Menschen, die der Alltagsgesellschaft den Rücken gekehrt haben. Ich finde, dass das ein schönes Sinnbild ist für die Spaltung der französischen Linken entlang zweier Generationen, die viele Ideen teilen, aber unterschiedliche Lösungsansätze für die Probleme der Gegenwart verfolgen. Radikalität ist heute viel schwieriger zu definieren.

Nathalie ist stark und zerbrechlich zugleich: eine perfekte Rolle für Isabelle Huppert. Hatten Sie sie schon beim Schreiben als Darstellerin im Sinn?

Ja. Ich konnte mir niemand anderen in dieser Rolle vorstellen. Ihre moralische und intellektuelle Autorität, ihr Scharfsinn und Witz standen gewissermaßen Pate für Nathalie. Hätte ich Isabelle nicht im Kopf gehabt, wäre die Figur wahrscheinlich viel depressiver ausgefallen, die Last auf ihren Schultern wäre viel schwerer gewesen, aber so war es unmöglich, sie als Opfer zu denken.

Obwohl Sie schon fünf Filme hinter sich haben, sind Sie noch relativ jung. Waren Sie nicht eingeschüchtert von der Präsenz einer solchen Veteranin?

Ein bisschen schon, aber ich habe mich voll auf die Arbeit konzentriert. Das Beeindruckende an Isabelle ist, dass sie beim Dreh zu hundert Prozent in ihrer Rolle aufgeht und den ganzen Ballast ihrer Persona ablegt. Ihre Arbeitsweise ist von enormer Leichtigkeit. Sie vertraut dem Regisseur voll und ganz. Das ist eine Verantwortung, die man ernst nimmt, da gibt es gar keinen Raum für Ängste.

ZUR PERSON

Mia Hansen-Løve wurde 1981 in Paris geboren und war zunächst als Filmkritikerin und Schauspielerin tätig. 2007 erschien ihr erster Langfilm, „Tout est pardonné“, der zum Teil in Wien gedreht wurde. Der internationale Durchbruch folgte mit dem Traumabewältigungs-Drama „Le père de mes enfants“. Ihre fünfte Regiearbeit, „L'avenir“, wurde auf der letzten Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Sie lebt in einer Beziehung mit dem Regisseur Olivier Assayas.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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